Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
auftaucht, kann das ebenso unheimlich wirken wie eine Phantasiegestalt in der Wirklichkeit.
    Ich fürchtete mich schrecklich, als ich den kleinen Mann mit dem Bambusstock zum ersten Mal außerhalb eines Traums sah, doch bald hatte ich mich an ihn gewöhnt. Wenn plötzlich Elfen und Trolle aus den Wäldern zum Vorschein kämen, würden wir natürlich erschrecken, aber früher oder später würden wir uns auch daran gewöhnen. Uns bliebe einfach nichts anderes übrig.
    Eines Nachts träumte ich, ich fände eine Geldbörse mit vier Silberdollar. Ich wäre ziemlich entsetzt gewesen, wenn ich die Geldbörse beim Aufwachen in der Hand gehalten hätte. Ich hätte mir einreden müssen, daß ich noch schlief, und dann noch einmal aufwachen.
    Wir glauben, daß wir wach sind, auch wenn wir träumen, aber wir wissen, daß wir wach sind, wenn wir nicht schlafen. Ich hatte die Theorie, daß der kleine Mann mit dem Spazierstock irgendwo im Traumland schlief und nur träumte, sich in der Wirklichkeit aufzuhalten. Schon bei dem Besuch im Tivoli war ich um einiges größer als er. Ich nannte ihn jetzt Meter, weil er nur einen Meter hoch war.
    Ich sagte Vater kein Wort über meine eigene Geisterbahn, ich wollte nicht undankbar erscheinen. Vielleicht war es auch ein bißchen ungerecht, daß so nur Mutter davon erfuhr. Sie wurde immer eifersüchtiger, weil es nun mal Vater gewesen war, der mit mir nach Kopenhagen fuhr. Du denkst auch nur noch an den Tivoli, sagte sie einige Tage nach meiner Heimkehr. Ich entgegnete, das liege vielleicht daran, daß ich in einem früheren Leben ein riesiger Rummelplatz gewesen sei. Mutter lachte. Du meinst, daß du in einem früheren Leben auf einem riesigen Rummelplatz gearbeitet hast, korrigierte sie mich. Ich schüttelte den Kopf und erklärte, nein, ich sei der ganze Rummelplatz gewesen.

    Als Kind wurde ich oft geschlagen. Nicht von meinem Vater, und auch nicht von meiner Mutter.
    Ich glaube, sie schlugen mich nicht, weil sie geschieden waren. Weil sie nicht zusammen wohnten, konnten sie sich nie einigen, wann ich Strafe verdient hatte. Mutter wußte genau, wenn sie mich schlecht behandelte, würde Vater das als erster erfahren. Ich rief ihn manchmal an und fragte, ob ich eine Stunde oder zwei länger aufbleiben dürfe, als Mutter das für richtig hielt. Er war immer auf meiner Seite, wenn er wußte, daß er mich damit froh und Mutter wütend machen konnte, das machte ihn doppelt glücklich. Auch, wenn ich mehr Geld brauchte, als Mutter mir geben wollte, rief ich ihn an. Vater war niemals böse auf mich. Er sah mich ja nur einmal in der Woche. Wir fanden beide, das reiche.
    Ich wurde von den anderen Jungen in der Schule verprügelt, und das war keine Heldentat, denn ich war weder groß noch stark. Sie nannten mich Kleiner Petter Spinnenmann, nach einem Kinderlied. Als kleiner Junge hatte ich im geologischen Museum ein Stück Bernstein gesehen, in dem eine Jahrmillionen alte Spinne eingeschlossen war, und einmal hatte ich in der Schule von dieser Spinne erzählt. Wir nahmen gerade die Elektrizität durch, und ich sagte den anderen, daß das Wort Elektrizität sich von dem griechischen Wort für Bernstein ableitet. Von diesem Tag an hieß ich nur noch Kleiner Petter Spinnenmann.
    Obwohl ich klein war, hatte ich eine große Klappe. Und darum wurde ich verprügelt. Ich riß den Schnabel besonders weit auf, wenn Erwachsene in der Nähe waren, wenn ich auf einen Bus aufsprang oder wenn ich die Haustür aufschloß. Ich konnte in solchen Augenblicken so in Hochstimmung sein, daß ich nicht an den nächsten Tag dachte. Was wir heute Langzeitplanung nennen, war nicht meine Stärke, ich nahm mir nie die Zeit für eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Dabei sah ich die anderen Jungen todsicher wieder. Und es waren nicht immer Erwachsene in der Nähe.
    Ich konnte mich geschickter ausdrücken als meine Altersgenossen, und ich war ein besserer Geschichtenerzähler. Ich konnte mich sogar besser ausdrücken als viele, die drei oder vier Klassen über mir waren. Das brachte mir zusätzlich viele blaue Flecken ein. Damals stand Meinungsfreiheit nicht gerade hoch im Kurs. In der Schule wurde uns etwas von den Menschenrechten erzählt, aber niemand machte uns klar, daß Meinungsfreiheit auch für Kinder und zwischen Kindern gilt.
    Einmal stieß Ragnar mich mit solcher Wucht gegen einen Wäschepfahl, daß ich mir den Kopf aufschlug. Als das Blut herausquoll, traute ich mich viele Dinge zu sagen, die ich sonst für mich behalten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher