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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Rücken zuließ. Auch Abu
Dun konnte ihr Verhalten nicht verborgen bleiben, doch er tat so, als
hätte er es nicht bemerkt, und kam mit raschen Schritten zu Andrej
zurück.
»Es wird jetzt Zeit«, sagte er. »Geh.«
»Und wenn ich mich weigere?«, fragte Andrej.
»Dann würden wir endlich herausfinden, wer von uns beiden wirklich der Bessere ist«, erwiderte Abu Dun mit großem Ernst. »Die
Frage interessiert mich schon seit langer Zeit, weißt du?«
Andrej ertappte sich dabei, die Hand um den Schwertgriff in seinem Gürtel zu schließen. Unabhängig davon, wie ernst Abu Duns
Drohung gemeint war, entsprachen seine Worte der Wahrheit. Sie
zogen nun schon so lange miteinander durch die Welt und hatten ihre
Kräfte so oft spielerisch gemessen, und doch hatten sie niemals herausgefunden, wer der bessere Schwertkämpfer war. Zweifellos war
Abu Dun Andrej kräftemäßig überlegen, doch Andrej hatte wesentlich mehr Erfahrung.
Mit einem demonstrativen Ruck nahm er die Hand wieder vom
Schwert. »Ich wusste immer, dass du ein Dummkopf bist, Pirat«,
seufzte er kopfschüttelnd. »Aber erst jetzt ist mir klar geworden, dass
du ein romantischer Dummkopf bist.«
»Bring sie in Sicherheit«, sagte Abu Dun. »Ich kann ihn besiegen,
Andrej. Doch wenn ich versage, dann musst du dich um den Jungen
kümmern. Lass nicht zu, dass ihm dasselbe passiert wie Frederic.«
Dieser versteckte Vorwurf war unfair und das wusste Abu Dun
auch. Dennoch wurde Andrej zu seiner eigenen Überraschung nicht
zornig. Im Gegenteil. Dass Abu Dun zu einem solchen Tiefschlag
ausgeholt hatte, machte ihm klar, wie viel ihm Julia und ihr Sohn
bedeuteten. Er sollte Abu Dun für das hassen, was er soeben gesagt
hatte, aber er konnte es nicht.
»Also gut«, sagte er. »Dann wünsche ich dir viel Glück, Pirat.«
»Glück«, sagte eine schrille Stimme, die aus dem Treppenschacht
hervordrang und von dem Geräusch schwerer, schlurfender Schritte
begleitet wurde, »brauchst wohl eher du, Brudermörder!«
Andrej zog sein Schwert und wich gleichzeitig bis zur Mauer zurück, während er sich zu der Luke umdrehte. Die schlurfenden
Schritte kamen näher und dann erschien eine geduckte, in blutgetränkte Fetzen gekleidete Gestalt auf der Plattform. Ein gewaltiges
Schwert blitzte in ihrer rechten und ein nur unwesentlich kleinerer
Dolch in ihrer linken Hand. Eine Art flackernder Schatten folgte ihr
auf dem Fuße. Andrej konnte nicht sagen, ob es an dem schwachen
Licht lag oder einem geheimnisvollen Zauber, der den Dämon umgab, doch er konnte die Kreatur nicht einmal dann richtig erkennen,
als sie weniger als fünf Schritte vor ihm stand.
»Ich wusste, dass man diesem Heidenhund nicht trauen kann«, fuhr
das Ding, das einmal Chevalier de Romegas gewesen war, mit einer
schrillen, zitternden Altmännerstimme fort.
Diese Stimme passt zu seinem Aussehen, dachte Andrej schaudernd. Er erschrak, als er sah, wie sehr sich der Edelmann in den wenigen Stunden verändert hatte, seit er ihn zum letzten Mal gesehen
hatte. Im Verlies war er eine heruntergekommene, bemitleidenswerte
Jammergestalt gewesen, in deren Augen das Feuer des Wahnsinns
loderte. Mittlerweile sah er aus wie ein Toter, der sich weigerte, in
seinem Sarg liegen zu bleiben. Seine Haut war grau wie schmutziges
Pergament und auch ungefähr genauso geschmeidig, die Augen waren tief in die Höhlen gesunken und das Fleisch hatte angefangen,
sich von seinem Gesicht zurückzuziehen, sodass sein Mund zu einem
ewigen, grässlichen Totenkopfgrinsen verzogen war. Die Hände, die
seine Waffen hielten, waren die eines mit Papier überzogenen Skeletts.
»Er wird sich nicht einmischen«, sagte Abu Dun, nicht an Romegas
gewandt, sondern an den Schatten hinter ihm, der reglos dastand und
sie aus unsichtbaren Augen anstarrte. »Nur du und ich. Um den
Preis, dass du den Jungen und seine Mutter gehen lässt. Hast du mich
gehört, Andrej? Du wirst dich nicht einmischen, ganz egal, was passiert.«
Weder Andrej noch der Dämon antworteten, aber Romegas stieß
ein meckerndes Lachen aus und fuchtelte mit seinem Schwert in der
Luft herum. Auf der anderen Seite des Turmes presste sich Julia
noch enger gegen das Mauerwerk. Andrej konnte das Entsetzen spüren, das die junge Frau ergriffen hatte.
»Wie edel!«, kicherte Romegas. Ein leiser Verwesungsgeruch wehte zu Andrej herüber, als der ehemalige Ordensritter mit albernen
Bewegungen auf der Stelle auf und ab zu hüpfen begann und dabei
mit seinen beiden Waffen in
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