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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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Argentinien. Ihr Vater hatte seinen Kindern gegenüber nur die Verpflichtung, bis zu deren zwanzigstem Altersjahr Alimente zu bezahlen, aber da er keinerlei Testament hinterlassen hatte, erbten weder sie noch ihre Mutter etwas von seinem beträchtlichen Vermögen. Es war seiner zweiten Frau und deren Anwalt offenbar ein Leichtes gewesen, ein argentinisches Recht geltend zu machen, welches sein ganzes Vermögen der überlebenden Ehegattin überschrieb.
    Dies von der Schweiz aus mit Hilfe eines südamerikanischen Anwalts anzufechten, waren Mutter und Kinder weder willens noch imstande, nachdem sie bei einem Telefongespräch von Mafalda Fasnacht y Riquez Cruz kaltschnäuzig abgekanzelt worden waren, doch dies bedeutete eine Neuordnung ihrer Lebensumstände. Der Vater hatte Bianca bei jedem ihrer Aufenthalte in Buenos Aires zu verstehen gegeben, dass sie sich für ihre Ausbildung an einer Musikhochschule keine Sorgen zu machen brauche, und auch ihrem Bruder Roberto, der sich für Maschinenbau interessierte, hatte er im Bezug auf dessen Studium dasselbe gesagt.
    Sofort begann Bianca, jüngeren Schülern und Schülerinnen
Klavierstunden zu erteilen und bot auch den Kirchen und Friedhofkapellen in Bellinzona und Umgebung ihre Dienste als Organistin und Harmoniumspielerin an. Gleichzeitig bereitete sie sich auf das Abitur vor. Roberto, der ein feines Gespür für Apparate aller Art hatte, empfahl sich am Anschlagbrett der Schule für Reparaturen von Plattenspielern und Radios und begann auch einen kleinen Handel mit Geräten, die er wieder gebrauchsfertig gemacht hatte, während die Mutter versuchte, ihre Tätigkeit als Sängerin und Pädagogin zu intensivieren.
    Nach der Matura, die sie ohne Probleme bestand, zog Bianca nach Zürich, um am Konservatorium zu studieren. Sie nannte sich nun Bianca Carnevale, und ihr Ziel war das Konzertdiplom. Mailand wäre ihr lieber gewesen, aber da sie Schweizerin war, hatte sie dort keine Aussicht auf ein Stipendium, während sie für Zürich sofort einen Ausbildungsbeitrag des Kantons Tessin bekam und sich später auch als Stipendiatin bewerben konnte. Da es in Zürich genügend Organisten und Klavierlehrerinnen gab, verdiente sie den Teil ihres Lebensunterhalts, für den sie selbst aufkommen musste, mit Privatstunden in Spanisch und Italienisch und konnte sich auch beim Fleischgroßhandel, in dem ihr Vater tätig gewesen war, als Übersetzerin für spanische Korrespondenz andienen.
    Und dann ergab sich noch eine andere, eher unerwartete Einkunft. Einer der Lehrer, der dort unterrichtete, war bei Sängern ein bekannter und gefragter Begleiter. Für diese Konzerte benötigte er jemanden, der ihm jeweils die Seiten der Notenblätter umdrehte, eine Aufgabe, für die er gerne Studentinnen fragte. Als seine ständige Seitenwenderin
für ein Jahr ins Ausland ging, bat er Bianca, diese Arbeit zu übernehmen, und das tat sie sehr gerne. So war sie nahe bei der Musik, nahe bei ihrem Lehrer, nahe bei bekannten Sängern und Sängerinnen, und sie wurde überaus anständig bezahlt.
    Damit begann für sie eine Entdeckungsreise ins Reich der Lieder, die ihr großes Vergnügen bereitete. Mit den Liedern von Schubert, Schumann, Mendelssohn, Beethoven betrat sie musikalische Landschaften, deren kunstvoller und unerschöpflicher Reichtum sie immer wieder in Erstaunen versetzte. Sie war glücklich, dass gerade sie für diese Aufgabe ausgewählt worden war, die sie im Übrigen als leicht empfand, obwohl sie nicht zu unterschätzen war. Man musste, auf einem Stuhl neben dem Pianisten sitzend, die Noten mitlesen und kurz vor Ende der Seite diskret, aber unfehlbar mit der linken Hand nach der oberen rechten Ecke der Seite greifen, diese mit Daumen und Zeigefinger anfassen und auf das leichte Nicken des Pianisten hin das Blatt rasch umdrehen. Damit der Arm dem Spieler nicht die Sicht auf die Noten verdeckte, musste man sich dazu möglichst unauffällig etwas erheben, um sich nach erfolgter Drehung ebenso unauffällig wieder zu setzen. Das Setzen erfolgte im selben Schwung wie das Wenden des Blattes und markierte den Abschluss des ganzen Vorgangs. Wichtig war auch, dass man das Papier sofort zwischen die Fingerspitzen kriegte, man musste also darauf achten, nicht zu trockene Hände zu haben. Wenn sich die Solisten zu Beginn des Konzerts kurz zum Gruß verneigten, durfte man sich nicht mit verneigen, und ebenso selbstverständlich galt auch der Schlussapplaus
dem Sänger und dessen Begleiter, die Seitenwenderin

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