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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Erde, und schleppte ein eingewickeltes Kind in den Armen. Ich rannte hinaus, ich dachte, das Kind sei von den Soldaten verwundet worden. Ich war sehr betrunken, und Marie-Annes Gestalt verschwamm mir vor den Augen. Sie brüllte: >Er will ihn umbringen! Er will sein Herz, verstehst du?< In knappen Worten berichtete sie, was geschehen war, vom Selbstmordversuch des Älteren, der Notwendigkeit einer Herztransplantation, dem Vorhaben ihres Mannes. Sie keuchte und drückte den immer noch betäubten Körper an sich. >Er ist der einzige, der seinen Bruder retten kann<, sagte sie. >Er muß verschwinden. Spurlos. < Und bei den Worten ergriff sie die Hände des schlafenden Kindes und tauchte sie in einen brennenden Busch, und während sie die schmorenden Handflächen betrachtete, wiederholte sie: >Keine Fingerabdrücke, keinen Namen, nichts mehr! Nimm ein Flugzeug, Nelly, verschwinde mit dem Kind. Gib ihm einen anderen Namen. Es darf nicht mehr existieren. Nie mehr, für niemanden.< Und ließ das kleine Bündel Schmerzen vor meinen Füßen in der roten Erde liegen. Nie werde ich den Anblick vergessen, Louis, als ihre schwankende Gestalt verschwand und ich wußte, daß ich sie nie Wiedersehen würde.«
    Nelly verstummte. Ich hob meine verbrannten Hände vors Gesicht und stotterte: »O Gott, nein ...«
    »Doch, Louis. Dieses Kind, das warst du. Pierre Sénicier ist dein Vater. Die Hölle der Silvesternacht 1965 war deine zweite Geburt, an die du zum Glück keine Erinnerung mehr hast. In der Nacht hieß es, die Familie Sénicier sei beim Brand ihres Hauses umgekommen. Das stimmte nicht: sie flohen, ich weiß nicht, wohin. Marie-Anne konnte ihrem Mann offenbar einreden, du seist verbrannt - wer weiß, wie ihr das gelungen ist. Pierre schaffte es, seinen zweiten Sohn am Leben zu erhalten, ihm ein anderes Herz einzusetzen, vermutlich in einem Krankenhaus im Kongo. Kurze Zeit später stieß der Körper das fremde Organ ab, dennoch war dem Chirurgen die erste Herztransplantation gelungen. An seinem eigenen Nachwuchs. Es folgten weitere Operationen. Seit dem Zeitpunkt stiehlt Sénicier passende Herzen und pflanzt sie seinem Kind ein, das seit fast dreißig Jahren im Sterben liegt. Sénicier sucht immer noch. Auf der ganzen Welt sucht er nach Herzen, und eigentlich sucht er dein Herz, das Organ, das mit Frederics Körper absolut vereinbar ist.«
    Mit den Händen krallte ich mir ins Gesicht, und ich stammelte, fast erstickt von den Tränen: »Nein, nein ...«
    Indessen fuhr Nelly in dumpfem Ton fort: »Ich habe Marie- Annes Befehl gehorcht. Noch in derselben Nacht charterten Georges und ich ein Flugzeug und flohen. Zurück in Paris, ließ ich dich ärztlich versorgen. Ich erfand eine neue Identität für dich .« Nelly fing an zu lachen. »Unsere nächste Station nach Zentralafrika war die Türkei, Antakya. Antiochia. Ich fand es amüsant - eigentlich war es makaber -, dich Antioche zu nennen, nach dem alten Namen der Stadt, in der wir wohnen würden. Ich hatte überhaupt keine Mühe, dir einen neuen Ausweis ausstellen zu lassen - Georges besaß einflußreiche Beziehungen innerhalb der Regierung. So bist du >Louis Antioche< geworden. Fingerabdrücke hattest du keine mehr. Wir haben eine neue Person aus dir gemacht und deine Geschichte neu erfunden, Louis. Du warst der Sohn eines aufopferungsvollen Arztehepaars, das bei einem Brand in Afrika umgekommen war. Du hattest als einziger überlebt. Du wurdest unsere Schöpfung.
    Später habe ich die Amme ausfindig gemacht, die mich aufgezogen hatte. Wir stellten sie an und beauftragten sie mit deiner Erziehung. Sie selbst hat die Wahrheit nie erfahren. Wir hingegen waren verschwunden - wir mußten verschwinden. Es war zu gefährlich. Du ahnst nicht, zu welcher bösartigen Intelligenz, zu welcher Zähigkeit und Heimtücke dein Vater imstande ist. Fern von uns, fern von der Vergangenheit hatte Louis Antioche nichts zu fürchten. Ich brauchte nur die distanzierte Adoptivmutter zu spielen und dir das Dasein zu erleichtern, sobald ich konnte. Seit diesem Tag habe ich nur einen einzigen Fehler begangen, und das war, als ich dich mit Max Böhm zusammenbrachte. Denn der Schweizer kannte deine Geschichte. Ich hatte sie ihm erzählt, als ich einmal in einer Krise war. Ich hielt ihn für einen Freund - wie Georges und ich war er ein alter >Afrikaner<. Mittlerweile weiß ich, daß Max deinen Vater ebenfalls kannte und daß er dich auf seine Spur angesetzt hat - mit dem einzigen Ziel, sich an ihm zu rächen;
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