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Der Elefanten-Tempel

Der Elefanten-Tempel

Titel: Der Elefanten-Tempel
Autoren: Ueberreuter
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würde.
    Wie selbstverständlich fragte Nuan sie nach dem Essen »Wollen wir noch zum Fluss gehen?«, und Ricarda nickte mit pochendem Herzen. »In einer halben Stunde?«
    Sofia blieb noch, um mit Chanida zu plaudern, und zwinkerte Ricarda zu, als sie ging. »Viel Spaß!«
    In ihrer Hütte schmierte sich Ricarda dick mit Autan ein, um später – am Fluss – nicht bei lebendigem Leibe von Moskitos ausgesaugt zu werden. Größere Raubtiere gab es dort zum Glück nicht. Dann öffnetesie den Kleiderschrank, griff tief hinein und fand, was sie gesucht hatte.
    Das Fernglas. Noch immer war ihr zuwider, es überhaupt anzufassen, doch sie tat es. Es war Zeit. Sie schlang sich den Trageriemen um das Handgelenk und klemmte sich ein großes Handtuch zum Draufsetzen unter den anderen Arm. Dann machte sie sich auf den Weg zum Fluss.

Schuld und Busse
    Ricarda nahm nicht den schlammigen, tief ausgetretenen Weg, den die Elefanten sonst gingen, sondern einen kleineren Fußpfad. Grünes Dämmerlicht begrüßte sie, dicht und prächtig wucherten die Pflanzen an den Seiten des Pfades, rankten sich die Stämme hoch und sprossen zartgrün am Wegesrand. Ricardas Sandalen machten kaum ein Geräusch auf dem sandigen Pfad. Wenn sie über eine Pfütze sprang, sickerte Matsch zwischen ihre Zehen, und manchmal rollte ein Tropfen von einem Blatt herab, landete kühl auf ihrem Arm. Überall pfiffen und zwitscherten Vögel, doch Ricarda sah keinen einzigen von ihnen, sie blieben in den Baumkronen verborgen.
    Ricarda wich einem Spinnennetz aus, das fast so groß war wie sie, und der Lederkasten des Fernglases prallte schmerzhaft gegen ihren Schenkel. Das blöde Ding machte Ärger bis zuletzt. Ricarda ignorierte den kleinen Schmerz und erhaschte durch die Zweige einen Blick auf schimmerndes Wasser. Da war schon der Fluss.
    Auf einem schmalen sandigen Uferstreifen, fast vom Dickicht verborgen saß Nuan. Ricardas Herz machte einen Sprung.
    » Pai nai? Wohin gehst du?«, begrüßte sie ihn lächelnd.
    » Pai thiau. Ich gehe spazieren«, erwiderte er, dochein Lächeln brachte er nicht zustande. Ricarda fiel sofort auf, wie schlecht er aussah. Seine nachtschwarzen Haare waren wirr und glanzlos, seine Augen stumpf und gleichgültig. Aus der Art, wie er die Knie mit den Armen umschlang und auf den Fluss hinausblickte, sprach tiefe Erschöpfung. Ricarda wusste, dass sie nicht zu fragen brauchte, wie es ihm ging. Er war zu stolz, um die Wahrheit zu sagen.
    Ricarda breitete das bunte Handtuch aus und ließ sich neben ihm nieder. Sie fühlte sich schrecklich hilflos. Gab es etwas, was sie jetzt für ihn tun konnte? Ihr fiel nichts ein. Außer vielleicht, ihn von seinem Kummer abzulenken. Mit dem, was sie ihm ohnehin hatte erzählen wollen.
    Als Ricarda den Lederkasten vor sich abstellte, achtete er kaum darauf. Erst als sie beide Hände darauf legte, warf er ihr einen fragenden Blick zu. Ricarda räusperte sich und zwang sich zu sprechen. »Das ist ein Fernglas. Ich möchte es dir schenken, falls du es gebrauchen kannst. Du kannst es auch verkaufen, wenn dir das lieber ist.«
    Vorsichtig öffnete Nuan den Lederkasten. Schwarz und schwer lag das Fernglas in seiner Hand, die Linsen glänzten wie frisch poliert. »Bist du sicher? Es ist fast neu.«
    »Es gehört eine Geschichte dazu«, sagte Ricarda und raffte all ihre Entschlossenheit zusammen. »Du kannst entscheiden, ob du das Fernglas nimmst, nachdem du sie gehört hast, okay?«
    Er nickte. Ja, es tat ihm gut, dass sie ihn von seinen Gedanken ablenkte. Ruhig und aufmerksam studierten seine dunklen Augen ihr Gesicht, und seine ganze Haltung hatte sich verändert, strahlte nun einen großen Ernst aus. Auf einmal konnte Ricarda sich vorstellen, wie er aussah, wenn er meditierte oder betete. Sie holte noch einmal tief Luft und begann zu erzählen.
    »Ich habe es von einem Onkel geschenkt bekommen, zu meinem vierzehnten Geburtstag. Also vor drei Jahren. Leider habe ich es nicht benutzt, um Vögel zu beobachten. Sondern, um zu spionieren. Ich war unheimlich neugierig und die Gewissensbisse … na ja, die waren schon da, aber zu schwach. Fast an jedem Abend habe ich geschaut, was die Nachbarn so tun. Zum Beispiel die Frau aus dem zweiten Stock schräg gegenüber. Sie hat fast nie die Vorhänge zugezogen. Manchmal hat sie drei Tafeln Schokolade und einen Haufen Chips auf einmal gegessen, dann ist sie im Bad verschwunden und ziemlich blass wieder aufgetaucht. Oder den jungen Mann aus dem ersten Stock eines
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