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Der Blutkelch

Der Blutkelch

Titel: Der Blutkelch
Autoren: Aufbau
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Vater Abt«, stammelte der Mann. »Das Schilfdach über dem Holzschuppen ist undicht, wir haben es eben erst bemerkt. Bestimmt ist Regen durchgekommen, und da ist das Holz nass geworden und …«
    Abt Iarnla schnitt ihm mit einer heftigen Bewegung der linken Hand das Wort ab.
»Mox nox, in rem«
, brummelte er. Wörtlich hieß das: »Bald ist es Nacht, komm zur Sache«. Er nutzte das Bild, um zum Ausdruck zu bringen, dass er sich keine langen Entschuldigungen anhören wollte Der Holzträger spürte den scharfen Tadel, zog den Kopf ein und murmelte, er wolle sofort losgehen und trockene Scheite holen. Bruder Gáeth war ein hoch aufgeschossener Mann mit wenig ansprechenden Gesichtszügen. Er blickte ständig niedergeschlagen drein, und schon tat es dem Abt leid, ihn gerügt zu haben. Alle wussten, Bruder Gáeth war nicht von sonderlicher Geistesstärke, und seine Lateinkenntnisse waren dürftig. Iarnla zwang sich zu einem Lächeln. »Sobald du trockenes Holz gefunden hast, bring es her, mich fröstelt.« Gehorsam bewegte sich Bruder Gáeth zur Tür und öffnete sie.
    Auf der Schwelle stand ein großer Geistlicher mit bleichem, fast hagerem Gesicht und hellblauen Augen. Er hatte die Hand erhoben, als wollte er eben anklopfen. Bruder Gáeth trat rasch beiseite und verbeugte sich ehrfurchtsvoll, denn er hatte Bruder Lugna vor sich, den
rechtaire,
den Verwalter der Abtei Lios Mór. In der Weisungsgewalt unterstand er nur dem Abt.
    Das erschreckte Aufatmen des Klosterbruders war nicht zu überhören, und so drehte sich der Abt um. »Ah, tritt ein, Bruder Lugna«, rief er und wies auf einen Armstuhl ihm gegenüber an der Herdstelle. »Ich muss mit dir reden.«
    Bruder Lugna war Mitte dreißig. Sein strohblondes Haar war zu einer
corona spina
, der römischen Tonsur, geschnitten, womit er sich zu den aus Rom kommenden Regeln bekannte. Sein Abt hingegen trug die Tonsur des heiligen Johannes, die die irischen Glaubensmänner bevorzugten. Die Miene des Verwalters war zu einer unnahbaren Maske erstarrt. Er kam herein, ließ den Holzbeschaffer hinausgehen und schloss die Tür. Dann setzte er sich auf den ihm vom Abt gewiesenen Stuhl und verharrte in Schweigen.
    Abt Iarnla war ein Mann in vorgerückten Jahren. Sein Haar war silbergrau, in den braunen Augen lag eine gewisse Traurigkeit. Seinem Äußeren war abzulesen, dass er unbeschwert und müßiggängerisch gelebt hatte. Er zeigte auf das qualmende Feuer und erklärte mürrisch: »Das Holz ist nass.«
    Sein Verwalter nickte zerstreut. »Ich habe den
tugatóir,
den Dachdecker, schon gerügt, weil er sich nicht um das Dach des Holzschuppens gekümmert hat.« Sein Ton verriet, dass ihn eigentlich etwas anderes beschäftigte.
    Der Abt schaute ihn nachdenklich an. »Ich habe dich zu mir gebeten, Bruder Lugna, weil ich gehört habe, dir mache der Zustand von Bruder Donnchad Sorgen. Oder ist es mehr der Ehrwürdige Bróen, der dich bekümmert? Im
refectorium
soll er heute früh verkündet haben, ihm sei gestern Nacht ein Engel vor seinem Fenster erschienen.«
    Bruder Lugna zog die Mundwinkel herab. »Der Ehrwürdige Bróen ist sehr betagt und hat betrüblicherweise nicht mehr alle Sinne beisammen. Echte Sorgen mache ich mir um Bruder Donnchad, und das tun wir alle hier in der Gemeinschaft.«
    »Reisen und Erlebnisse, wie sie Bruder Donnchad vom Schicksal bestimmt wurden, können selbst bei dem Stärksten ihre Spuren hinterlassen«, suchte der Abt zu erklären.
    Der Verwalter schürzte die dünnen Lippen, ehe er erwiderte: »Sein Verhalten versetzt die gesamte Klostergemeinschaft, und mich nicht weniger in Unruhe. Bevor er mit Bruder Cathal ins Heilige Land aufbrach, soll er in sich gekehrt gewesen sein und sich Gefühlsaufwallungen hingegeben haben. Oft habe er sich allein in stundenlange Meditationen versenkt.«
    »Liegt das nicht in der geistlichen Natur unserer Berufung? Warum sollte es uns bekümmern, wenn er jetzt weiterhin solchen Neigungen nachhängt?«, wandte der Abt lächelnd ein.
    »Ich habe jeden Respekt davor, dass sich Bruder Donnchad mit Hingabe dem Glauben und seiner Gelehrsamkeit widmet. Dennoch, seine sonderbaren Launen sind es, die uns zu denken geben. Seit seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land vergräbt er sich in finstere Kontemplationen. Mitunter lässt er seine Mitbrüder eine unbeherrschte Launenhaftigkeit spüren. Besonders Bruder Gáeth leidet darunter, der früher sein
anam chara
– sein Seelenfreund – war, wie es heißt.« Er verzog das Gesicht und fuhr
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