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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition)
Autoren: Martin Clauß
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einem Geistlichen vertieft. Es ist ein Mann mit einem schmalen, gütigen Gesicht und langen, gebogenen Zähnen; in gewisser Weise ähnelt er Pater Henry Ouston, der mich später in London unter seine Fittiche nehmen wird. Er trägt ein weißes Gewand und eine Kopfbedeckung, die wie eine Kapuze anmutet. Er scheint für einen Moment verwundert, mich Lateinisch statt Italienisch sprechen zu hören, doch dann tauschen wir uns in der alten Sprache flüssig über seltsame Dinge aus.
    Er spricht über Reliquien, ich über die Chirurgie – es kommt ganz natürlich aus unseren Mündern. Es sind die Themen, die uns beschäftigen. Betrunkene reden über nichts als die Dinge, die sie gut kennen, mit denen sie vertraut sind. Menschen im Fieber ebenso. Genauso ist es bei uns.
    Er redet über die Wunder, die die Leiber der Heiligen nach ihrem Tode wirken, über die Kraft ihrer Überreste, über das Glück, in ihrer Nähe sein zu dürfen. Ich spreche über das Innere von Menschen, über die komplexe Zusammenarbeit, die unsere Organe – von uns in keinster Weise beachtet oder gelenkt – unter unserer Haut tagtäglich verrichten. Mehr und mehr habe ich den Eindruck, wie reden über zwei Seiten einer einzigen Münze. Vielleicht ist es das, was uns – zwei Unbekannte – einander so nahe bringt. Er zerrt mich in eine Kammer, als wir uns in Rage geredet haben. Er schließt die dicke Holztür hinter uns, und plötzlich sind wir alleine. Die Menschenmassen sind ausgesperrt, verschwunden, die Kühle der Kirche, die mich eben noch erfrischt und belebt hat, verwandelt sich in drohende Kälte.
    Schwer atmend und schweigend sehen wir uns an, wie ein Liebespaar, das von der Leidenschaft übermannt Dinge getan hat, für die es sich mit einem Mal schämt. Wie nackt stehen wir voreinander, zwei Menschen, die sich bis vor einer halben Stunde nie gesehen haben und nun alles voneinander wissen, worauf es ankommt.
    „Kannst du die Echtheit einer Reliquie bestätigen, mein Sohn?“, fragt er mich nach einer Pause. Es dauert eine Minute, bis ich die Frage verstanden habe.
    „Ich kann sagen, ob ein Fingerknochen ein Fingerknochen ist“, erwidere ich langsam. Ich bin noch immer wie benommen von der unwirklichen Intensität unserer Konversation. Der Vergleich mit dem Liebespaar, das der körperlichen Leidenschaft nachgegeben hat, will mir nicht aus dem Sinn.
    „Glaubst du an Gott?“, möchte er wissen, und ich antworte so wahrheitsgemäß wie möglich: „Ich nehme es an.“
    Obgleich seine Augen sehr ernst und kritisch werden, scheint ihn die Antwort zufrieden zu stellen. Er scheint gefürchtet zu haben, ich könne etwas anderes sagen.
    „Ich möchte dir etwas zeigen. Deine Meinung dazu möchte ich hören, deine, nicht die der Medizinstudenten von Padua. Sie sagen einem Priester nur, was er hören will“, eröffnet er mir. Es fühlt sich mehr als merkwürdig an, an einem solchen Ort solche Gespräche zu führen, noch dazu in lateinischer Sprache. Doch die Intensität seines Gesichtsausdrucks lässt nicht zu, dass ich mich der Konversation entziehe. „Ich spreche dich an, weil ich dir vertraue, Fremder. Ich kenne deinen Namen nicht, und vielleicht ist es besser so. Vor dem Herrn tragen wir alle denselben Namen.“
    Er wartet keine Reaktion meinerseits ab. Stattdessen dreht er den Schlüssel im Schloss, stößt die Tür beinahe mürrisch auf, und wir sind wieder zurück im Gewühl der Gläubigen. Die drei gewaltigen Kirchenschiffe öffnen sich wie vorzeitliche Höhlen, das Funkeln polierter goldener Skulpturen und Reliquienschreine blendet mich, und die Flut der Pilger droht mich hinfort zu reißen.
    „Was Sie mir zeigen wollen“, rufe ich ihm nach, „ist hier, in der Basilika?“ Seine Lippen werden schmal. Ich verstehe. Ehe wir nicht wieder unter vier Augen miteinander reden können, werde ich nichts mehr sagen.
    Schwach erinnere ich mich an Türen, die so rasch aufgeschlossen wie verriegelt werden, enge Treppen in die Tiefe und einen erstaunlich breiten unterirdischen Flur, der über die gesamte Länge des Gotteshauses zu verlaufen scheint. Wir begegnen einem kleinen Männchen, das beinahe wie ein Gnom aus einem Märchen aussieht, mit büschelweise vom Kopf abstehenden Haaren und verkrümmtem Rücken – eine Art Wächter, vertieft in die Lektüre eines offenbar handgeschriebenen Buches. Die blutroten Initialen, die nahezu die gesamte Seite einnehmen, begleiten mich noch heute manchmal in meinen angenehmeren Träumen.
    Er fungiert als
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