Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
Grund, weshalb er später, als sie nebeneinanderlagen, sich nach diesem Moment vollkommener Wunschlosigkeit nicht zurücksehnte. Er wusste, dass dieser Moment sich nie wiederholen würde, denn er war unsterblich.
    Das Licht der Straßenlampe zeichnete ein Fensterkreuz auf die Schlafzimmertür. Es war vollkommen still, der Schnee deckte Brügge in dieser Nacht zu.
    Annick atmete ruhig.
    Jensen wollte das Schweigen nicht brechen.
    Die Zeit verging ohne Hast.
    Er wartete.
    Irgendwann sagte Annick: »Sie war hier.« Sie beugte sich über Jensen und drückte ihm die Hand auf den Mund. »Sag jetzt nichts. Lass mich sprechen. Sie war hier bei mir, am Tag vor Trees’ Beerdigung. Sie hat mir alles erzählt. Sie wollte mich leiden sehen, aber es hat nicht funktioniert. Sie war es, die litt, ihre Stimme war böse und voller Trauer. Sie wollte mich für die Freundschaft mit Trees bestrafen, sie hat mir alles ins Gesicht gegeifert, du und sie, im Hotel, und was ihr da getrieben habt. Ich stand nur da und spürte die Tröpfchen im Gesicht, ihren Speichel. Sie hat mir leidgetan. Sie hätte sich die Mühe sparen können. Ich wusste, dass du sie kanntest. Erinnerst du dich? In dem Bistro, im Gouden Reaal? Es hat eine Weile gedauert, bis es mir bewusst wurde. Ich war zu sehr mit Trees beschäftigt, mit ihrer Lüge, mit ihrem Tod, und dann die Blutung … Ich bin mit einem Taxi ins Sint-Jan gefahren … es fühlte sich an, als wurde das Kind aus mir hinausrinnen. Ich habe mich beim Taxifahrer entschuldigt, immer wieder, entschuldigen Sie, bitte verzeihen Sie. Ich dachte, dass ich in einer Blutlache sitze, dass ich ihm den ganzen Wagen vollblute.«
    Sie schwieg.
    Dann sagte sie: »Im Krankenhaus haben sie mich untersucht, auf der Notfallstation. Eine Ärztin mit einer wunderbaren Stimme sagte: Nun übertreiben Sie mal nicht, sonst erschrecken Sie noch Ihr Kind. Sie drehte den Lautsprecher des Ultraschallgeräts lauter, und ich konnte die Herztönehören. Es ist vollkommen gesund, sagte die Ärztin. Aber der Gebärmutterhals war entzündet. Eine …«
    Zervizitis, dachte Jensen. Noch immer drückte sie ihm den Mund zu, er atmete durch das freie Nasenloch, das andere verschloss ihr Zeigefinger. Er blähte den Nasenflügel, um genügend Luft zu bekommen. Es war unangenehm, aber er empfand es als gerecht, er wollte an der Situation nichts ändern. Er wollte, dass sie weitersprach.
    »Jedenfalls ließen sie mich wieder nach Hause. Ich wartete auf dich, aber du kamst nicht. Du hast auch nicht angerufen. Ich war trotzdem glücklich. Und kurz bevor ich einschlief, wusste ich es dann plötzlich. Trees’ Tochter und du, ihr habt euch gekannt. Ich hatte dich gebeten, im Gouden Reaal nach Vera zu suchen, nach einer dunkelhäutigen Frau, und als Vera uns ansprach und uns an ihren Tisch einlud, hättest du sie doch fragen müssen: Sind Sie nicht Vera Lachaert? Wir setzten uns an ihren Tisch, und ich fragte dich, ob wirklich niemand, auf den die Beschreibung zutraf, im Lokal saß. Und du sagtest nein. Die ganze Zeit über hast du es mir verschwiegen, und ich habe es nicht gemerkt. Du weißt doch, ich merke es sonst immer, wenn jemand lügt. Ich höre es an der Stimme. Aber bei dir nicht. Bei Trees und Jorn habe ich es auch nicht gehört. Der Grund ist, dass ich die beiden mochte. Wenn mir jemand etwas bedeutet, werde ich taub. Und bei dir, Hannes, war ich unglaublich taub. Trees und Jorn haben mich nur belogen, was ihre Tochter betraf. Ihre Lüge war nicht persönlich gemeint, sie haben alle belogen, ihre Verwandten, die Nachbarn … Aber du.« Annick verstärkte den Druck ihrer Hand. »Du hast nur mich belogen. Es war eine auf mich zugeschnittene Lüge, sie galt nur mir. Und ich habe es deiner Stimme trotzdem nicht angehört. Verstehst du, was das bedeutet?«
    Er nickte.
    »Dass ich vorhin mit dir geschlafen habe«, sagte sie, »war das Ergebnis einer Entscheidung. Einer sehr knappen Entscheidung, Hannes. Das Kind hat den Ausschlag gegeben. Ich habe kein Recht, es ohne Vater aufwachsen zu lassen, nur weil ich unfähig bin, zu verzeihen. Ich werde es lernen müssen, dem Kind zuliebe. Und ich werde dabei an Ilunga denken. Weißt du, was ihr Name bedeutet? Ich habe mich informiert, nur aus Neugier, aber dann war es wie eine Botschaft. Ilunga bedeutet: Jemand, der eine Lüge einmal vergibt, aber nie ein zweites Mal.«
    Sie nahm die Hand von seinem Mund.
    »Das ist alles«, sagte sie. Sie setzte sich im Bett auf. »Ich werde nie wieder darüber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher