Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Den Tod im Blick- Numbers 1

Den Tod im Blick- Numbers 1

Titel: Den Tod im Blick- Numbers 1
Autoren: Rachel Ward
Vom Netzwerk:
umklammert und bildete mit ihrem Körper einen Käfig, der mich so eng umschloss, dass ihre Adern stärker hervorstachen und ich die blauen Flecken und Einstiche deutlicher erkennen konnte als je zuvor. Sie schaute mir scharf in die Augen, die Wut stand ihr klar ins Gesicht geschrieben. »Hör zu, Jem«, sie spuckte die Worte aus. »Ich weiß nicht, was du da brabbelst. Aber hör auf. Es macht mich wahnsinnig, ich kann das heute nicht brauchen. Kapiert? Ich kann es nicht brauchen, also verdammt noch mal … halt … die … Klappe.« Ihre Silben stachen wie wild gewordene Wespen, das Gift sprühte nur so. Und die ganze Zeit, die wir uns Auge in Auge anstarrten, war ihre Zahl da, eingeprägt auf der Innenseite meines Schädels: 10102002.
    Vier Jahre später sah ich, wie ein Mann in schmuddeligem Anzug auf ein Blatt Papier schrieb: Datum des Todes: 10. 10. 2002 . Ich hatte Ma morgens gefunden. Ich war aufgestanden wie jeden Morgen, hatte mein Schulzeug angezogen und mir ein bisschen Müsli zurechtgemacht. Ohne Milch, denn die stank, als ich sie aus dem Kühlschrank nahm. Ich ließ den Karton draußen stehen, setzte den Kessel auf und aß meine Kokosflocken, während das Wasser heiß wurde. Dann machte ich Ma einen schwarzen Kaffee und trug ihn vorsichtig zu ihr ins Zimmer. Sie lag noch im Bett, hing aber irgendwie halb raus. Die Augen standen offen, ihr Körper und die Decke waren voll Zeug – Erbrochenem. Ich stellte den Kaffee auf den Boden, direkt neben die Spritze.
    »Ma?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass sie nicht antworten würde. Es war niemand mehr da. Sie war tot. Und ihre Zahl war auch weg. Ich erinnerte mich an die Zahl, aber sehen konnte ich sie nicht mehr, wenn ich in Mas trübe, leere Augen blickte.
    Ich stand ein paar Minuten da, ein paar Stunden – keine Ahnung –, dann ging ich runter und sagte der Frau in der Wohnung einen Stock tiefer Bescheid. Sie ging nach oben, um nachzuschauen. Ließ mich draußen vor der Wohnung warten, als ob ich es nicht längst gesehen hätte, dumme Kuh. Sie war höchstens dreißig Sekunden verschwunden, dann spurtete sie an mir vorbei und übergab sich im Hausflur. Als sie fertig war, wischte sie sich mit ihrem Taschentuch den Mund ab, nahm mich mit in ihre Wohnung und rief einen Krankenwagen. Danach kamen all diese Menschen: Leute in Uniform – Polizei, Sanitäter; Leute in Anzügen – wie der Mann mit dem Klemmbrett und dem Blatt Papier und eine Frau, die mit mir sprach, als wär ich dämlich, und mich wegbrachte, einfach so, von dem einzigen Ort, den ich bis dahin kannte.
    In ihrem Wagen, als wir wer weiß wohin fuhren, musste ich immer wieder dran denken. Diesmal nicht an die Zahlen, sondern an die Wörter. Drei Wörter. Datum des Todes. Datum des Todes. Wenn ich die Bedeutung doch bloß gekannt hätte, vielleicht hätte ich es ihr ja sagen, sie dazu bringen können, aufzuhören, was weiß ich. Was hätte es genützt? Wenn sie gewusst hätte, dass wir bloß sieben gemeinsame Jahre hatten? Hätte es was gebracht? Scheiße, verdammt – sie war ein Junkie. Es gab nichts auf der Welt, was sie dazu hätte bringen können, aufzuhören. Sie war süchtig.
    Es gefiel mir nicht, mit Spinne da unter der Brücke zu sein. Klar, wir waren draußen, trotzdem fühlte ich mich irgendwie eingeschlossen, gefangen mit ihm. Er füllte alles mit seinen schlaksigen Armen und Beinen, die dauernd – fast zuckend – in Bewegung waren, und mit seinem Gestank. Ich duckte mich an ihm vorbei und lief auf den Treidelpfad.
    »Wo willste denn hin?«, rief er mir nach und seine Stimme hallte von den Betonwänden zurück.
    »Einfach rumlaufen«, murmelte ich.
    »Genau«, sagte er, während er aufholte. »Rumlaufen und quatschen. Rumlaufen und quatschen.« Und rückte heran, dicht an meine Schulter, berührte mich. Ich ging weiter, den Kopf gesenkt, die Kapuze über dem Kopf, mit eingeschränkter Sicht auf Kieselsteine und Müll, die sich unter den Turnschuhen bemerkbar machten. Er ging neben mir. Wir müssen total bescheuert ausgesehen haben, ich ziemlich klein für meine fünfzehn Jahre und er wie eine schwarze Giraffe auf Speed. Er versuchte ein bisschen zu reden, ich ignorierte ihn. Hoffte, er würde aufgeben und verschwinden. Aber keine Chance. Ich hätte vermutlich sagen müssen: »Verpiss dich!«, um ihn loszuwerden, doch selbst dann wär er wahrscheinlich nicht abgehauen.
    »Du bist also neu hier in der Gegend, ja?«
    Ich zuckte die Schultern.
    »Von deiner alten Schule
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher