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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath
Autoren: Malcolm Gladwell
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dann sprachen die beiden darüber, was der Mord über den Zustand des Rechtsstaats in Kalifornien aussagte, und nun trafen Anrufe aus dem ganzen Bundesstaat ein.
    Wieder zu Hause, berief Reynolds ein Treffen ein. Er lud alle ein, die seiner Ansicht nach etwas bewegen konnten. Sie saßen in seinem Garten um einen langen Holztisch neben dem Grill. »Es waren drei Richter, ein paar Leute von der Polizei, Anwälte, der Sheriff, Leute aus dem Büro des Staatsanwalts, Leute aus der Gemeinde und der Schule«, erzählt er. »Wir haben uns gefragt: ›Warum passiert so was? Was ist die Ursache?‹«
    Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass Gesetzesbrecher in Kalifornien zu milde bestraft wurden und zu schnell auf Bewährung freikamen. Wiederholungstäter wurden genauso behandelt wie Erststraftäter. Douglas Walker, der Beifahrer des Motorrads, war schon als Dreizehnjähriger zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten, als er beim Verkauf von Heroin erwischt wurde. Diesmal hatte er Hafturlaub erhalten, um bei seiner schwangeren Frau sein zu können, und war nicht mehr zurückgekommen. War das nicht absurd?
    Die Gruppe erarbeitete einen Gesetzentwurf. Reynolds bestand darauf, ihn allgemeinverständlich zu formulieren und so kurz wie möglich zu halten. Er wurde als »Three Strikes Law« bekannt, das Gesetz der drei Schläge. Der Entwurf verlangte, dass jeder, der in Kalifornien zum zweiten Mal wegen eines schweren Verbrechens verurteilt wurde, das Doppelte des üblichen Haftmaßes erhalten sollte. Und wer ein drittes Mal verurteilt wurde, egal für welches Verbrechen, sollte keine Chance mehr bekommen und lebenslänglich hinter Gittern verschwinden. 144 Es sollte keine Ausnahmen und keine Schlupflöcher mehr geben.
    Reynolds und seine Gruppe sammelten Unterschriften für einen Volksentscheid im gesamten Bundesstaat. Zahllose Initiativen versuchen, bei Wahlen Volksentscheide durchführen zu lassen, doch die allermeisten kommen nie so weit. Three Strikes traf dagegen einen Nerv. Erstaunliche 72   Prozent der Wähler stimmten dem Referendum zu, und im Frühjahr 1994 setzte der Gouverneur seine Unterschrift unter Three Strikes. Das Gesetz entsprach fast wortwörtlich dem Entwurf, der im Garten von Mike Reynolds aufgesetzt worden war. Der Kriminalwissenschaftler Franklin Zimring bezeichnete es als »das größte Strafrechtsexperiment in der Geschichte der Vereinigten Staaten«. Im Jahr 1989 saßen 76   000   Menschen in kalifornischen Gefängnissen. Diese Zahl sollte sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln, während gleichzeitig die Verbrechensrate des Bundesstaates rasant zurückging. Zwischen 1994 und 1998 sank die Zahl der Morde um 41,1   Prozent, der Vergewaltigungen um 10,9   Prozent, der Raubüberfälle um 38,7   Prozent, der Tätlichkeiten um 22,1   Prozent, der Einbruchsdiebstähle um 29,9   Prozent und der Autodiebstähle um 36,6   Prozent. Mike Reynolds hatte seiner sterbenden Tochter versprochen, er wolle verhindern, dass andere ihr Schicksal teilen müssten. Und sein Schmerz hatte eine Revolution bewirkt.
    »Damals sind in Kalifornien pro Tag zwölf Menschen ermordet worden. Heute sind es etwa sechs«, sagt Reynolds. »Das heißt, dass heute jeden Tag sechs Menschen überleben, die ohne dieses Gesetz vielleicht nicht mehr am Leben wären.« An den Wänden seines Büros hängen Fotos, die ihn mit Politikern und Prominenten zeigen, daneben Plaketten, signierte Urkunden und gerahmte Briefe, die alle Zeugnis von der außergewöhnlichen Rolle ablegen, die Reynolds im bevölkerungsreichsten Bundesstaat der Vereinigten Staaten gespielt hat. »Vielleicht bekommt man im Laufe eines Lebens ein oder zwei Mal die Gelegenheit, jemandem das Leben zu retten«, fährt er fort. »Vielleicht jemanden aus einem brennenden Gebäude zu befreien oder vor dem Ertrinken zu retten oder sonst was Verrücktes. Aber wer hat schon die Möglichkeit, sechs Menschenleben pro Tag zu retten? Ich habe wirklich großes Glück.«
    Er macht eine Pause, als wolle er Revue passieren lassen, was sich in den zwanzig Jahren seit seinem Schwur ereignet hat. Er ist ein redegewandter und überzeugender Mann. Es ist unschwer zu erkennen, warum er in Ray Appletons Radiosendung trotz oder gerade wegen seines überwältigenden Schmerzes so unwiderstehlich wirkte. Er fährt fort: »Denken Sie mal an den Erfinder des Sicherheitsgurts. Wissen Sie, wie er heißt? Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Aber denken Sie mal, wie viele Leute dank der
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