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Das Versteck der Anakonda

Titel: Das Versteck der Anakonda
Autoren: Ralf Lilienthal
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atemberaubend groß. Zusammengerollt in
     einer von Wurzeln begrenzten Mulde lag sie direkt am Wasser und sonnte ihren in vielen Farben schillernden Leib. Das Halbprofil
     des kantigen Schädels zeigte Richtung Fluss. Ohne ihr gelegentliches Züngeln hätte man das vollkommen ruhige Tier auch für
     eine Versteinerung halten können. Wortlos und wie gebannt verharrten die beiden Beobachter einige Meter entfernt und konnten
     sich an dem Bild der majestätischen Schlange nicht sattsehen. Zehn, zwölf Minuten vergingen, ohne dass überhaupt etwas geschah.
    Dann, langsam, fast lässig, wandte ihnen die Anakonda den Kopf zu und sah sie an. ›Sie hat keine Angst vor uns‹, dachte Paul,
     ›und sie ist schön!‹
    Sein Vater schien etwas Ähnliches zu denken, denn er legte Paul seine Hand auf die Schulter und sah kurz zu ihm hinunter.
     Irgendwann, als sie schon längst jedes Zeitgefühl verloren hatten, streckte sich der schwere Leib des Tieres aus seiner Ruheposition
     und glitt sehr langsam, aber trotzdem mühelos auf das Wasser zu. Es war, als ob sie sich noch einmal in ihrer ganzen Länge
     zeigen wollte, bevor sie vor denBlicken der Menschen in ihrem Baumversteck verschwand.

    »Paul, merk dir irgendetwas Auffälliges am Kopf und am Schwanzende. Mach ich auch. Wenn du mich fragst, ist es definitiv eine
     Zehn-Meter-Anakonda.«
    Dann zog der Biologe ein Taschenmaßband aus der Jacke. Gemeinsam legten sie es an. Doch die abgewickelten zehn Meter waren
     zu wenig.
    »Es reicht nicht. Warte.«
    Als er die letzten Zentimeter nachgemessen hatte, fehlten Dr.   Zernott die Worte.
    »Die Roosevelt-Schlange. In Ecuador. Und wir haben sie gefunden und vermessen.«
    »Papa?«
    Paul sah den Vater aus erschreckten Augen von der Seite an.
    »Man muss sie   … töten, um den Preis zu bekommen – oder?«
    Dr.   Zernott blickte ihn verdutzt an: »Töten, aber warum denn? Man kann sie betäuben und vermessen. Und natürlich mit dem Bandmaß
     daneben fotografieren. Wenn du das unter Zeugen machst, geht das in Ordnung.«
    Paul war mulmig zumute. Die größte Schlange derWelt, eine wirkliche Dschungelmajestät – betäubt, vermessen und überall in der Welt in den Schlagzeilen – das war nicht nach
     seinem Geschmack.
    »Wann willst du wiederkommen und sie betäuben?«
    Mit einem Ruck drehte sich der lange Biologe zu seinem Sohn um.
    »Wie? Betäuben? Ich? Dieses Tier? Nicht für eine Million Dollar würde ich seine Ruhe stören. Was meinst du, was hier los ist,
     wenn die Zeitungen oder das Fernsehen Wind davon bekommen?«
    Paul war von den Socken. Das Plumpsen des Steins, der ihm soeben vom Herzen gefallen war, musste noch im Camp Napo zu hören
     gewesen sein. Er strahlte seinen Vater an, nahm zwei Schritte Anlauf, und ehe der sich versah, hing Paul einen halben Meter
     über dem Boden um seinen Hals.
    »Natürlich wirst du nichts verraten«, sagte Paul. »Wie konnte ich das bloß einen Moment lang glauben?«
    Dann schwiegen sie wieder.
    »Wirst du noch mal herkommen, um sie zu beobachten, Papa?«
    »Ich weiß nicht genau.« Dr.   Zernott dachte kurz nach, schüttelte den Kopf und legte erneut den Armum Pauls Schulter. »Nein, ich glaube nicht. Eine solche Begegnung sollte man nicht wiederholen. Die bleibt einem für immer
     im Herzen.«
    Paul nickte. Er verstand, was sein Vater meinte. Dann drehten sich die beiden um und verließen mit langsamen Schritten diesen
     besonderen Ort.
     
    Als Joe am nächsten Abend mit einem dicken Verband am Kopf vor Paul und seinem Vater stand und sich herzlich für seine Rettung
     bedankte, hatte er den Traum von der Zehn-Meter-Schlange wohl irgendwo zwischen Puerto Misahuallì und Camp Napo aufgegeben.
     Er war ein wenig enttäuscht, aber auch an seinen Abenteuern im Dschungel gewachsen. Dass Johannes Cornelius Portländer der
     II. beinahe der Entdecker der Roosevelt-Schlange geworden wäre, wussten nur Vater und Sohn Zernott. Doch das Versteck der
     Anakonda war ihr Geheimnis und würde es für immer bleiben.
    Der fiese Dschungelführer Wolf kam nicht weit mit dem geraubten Geld. Die ecuadorianische Polizei nahm ihn fest, als er gerade
     das Land in Richtung Kolumbien verlassen wollte.
    Und Paul? Vierzehn Tage später saß er wieder in der kleinen Cesna und blickte wehmütig zurückauf den Dschungel, den Fluss, das Camp, auf seinen Freund Juanito und auf die Insel der Großen Dschungelkönigin. Und auf eine
     Zeit voller erstaunlicher Abenteuer, die er sein ganzes Leben lang nicht mehr
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