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Das Versprechen

Das Versprechen

Titel: Das Versprechen
Autoren: David Baldacci
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hielt den Kopf gesenkt. Tränen tropften auf den abgeschliffenen Holzboden zwischen dünnen Beinchen, die diesen Boden noch gar nicht erreichen konnten. Ein blaues Gesangbuch lag ungeöffnet neben ihm; nichts lag dem Jungen in diesem Moment ferner als Singen.
    Lou hatte einen Arm um Oz’ Schultern gelegt, doch ihre Blicke blieben auf den Sarg geheftet. Es machte keinen Unterschied für sie, dass der Deckel geschlossen war. Auch der Schild aus wunderschönen Blumen konnte das Bild nicht vertreiben, das sie von dem Toten im Inneren hatte. Lou hatte beschlossen, aus Anlass des heutigen Tages ein Kleid zu tragen. Bisher hatte es nur wenige solche Anlässe gegeben; die verhassten Uniformen, die sie und Oz hatten tragen müssen, um die Vorschriften an der katholischen Schule zu erfüllen, zählten nicht. Ihr Vater hatte Lou immer gern in Kleidern gesehen, hatte sie sogar einmal für ein Kinderbuch, das er geplant, aber nie veröffentlicht hatte, im Kleid gezeichnet. Lou zog sich die weißen Strümpfe hoch, die bis zu ihren knochigen Knien reichten. Ein Paar neue schwarze Lackschuhe drückte ihre schmalen Füße, die ganz fest auf dem Boden standen.
    Lou hatte sich nicht die Mühe gemacht, »Amazing Grace« mitzusingen. Sie hatte dem Priester zugehört, der behauptete, der Tod sei im Grunde ein Anfang und in Gottes unerforschlichen Ratschlüssen müsse dies eigentlich eine Zeit der Freude sein, nicht des Leids, und dann hörte sie gar nicht mehr zu, betete nicht einmal für die verlorene Seele ihres Vaters. Sie wusste, Jack Cardinal war ein guter Mensch gewesen, ein hervorragender Schriftsteller, ein Erzähler wunderschöner Geschichten. Sie wusste, man würde ihn sehr vermissen. Kein Chor und kein Geistlicher, nicht einmal Gott brauchte ihr diese schlichten Tatsachen vor Augen zu halten.
    Der Gesang erstarb, und einmal mehr redete der Priester drauflos, während Lou eine Unterhaltung zweier Männer hinter ihr aufschnappte. Schon ihr Vater war ein skrupelloser Lauscher gewesen, stets auf der Suche nach dem authentischen Wortlaut von Gesprächen, und seine Tochter teilte diese Neugier. Jetzt hatte sie noch mehr Grund denn je.
    »Wie sieht’s aus? Hast du irgendwelche brillanten Einfälle gehabt?«, flüsterte der ältere Mann seinem jüngeren Begleiter zu.
    »Was für Einfälle? Wir sind Verwalter eines Nachlasses, den es gar nicht gibt«, hörte sie die hitzige Antwort des jüngeren Mannes.
    Der Ältere schüttelte den Kopf und fuhr noch leiser fort, sodass Lou sich anstrengen musste, um überhaupt etwas zu verstehen.
    »Doch, es gibt etwas. Jack hat immerhin zwei Kinder und eine Frau hinterlassen.«
    Der Jüngere schaute zur Seite. »Eine Frau?«, sagte er dann mit leisem Zischen. »Die Kinder könnten genauso gut Waisen sein.«
    Es war nicht klar, ob Oz diese Worte gehört hatte, aber er hob plötzlich die Hand und legte sie auf den Arm der Frau neben ihm: seine Mutter im Rollstuhl. Eine weiß gewandete Pflegerin saß auf der anderen Seite Amandas, die Arme unter ihrem Hängebusen verschränkt; die Frau blieb sichtlich unberührt vom Tod eines ihr Fremden.
    Ein dicker Verband lag um Amandas Kopf, und ihr kastanienbraunes Haar war kurz geschoren. Ihre Lider waren geschlossen. In Wirklichkeit hatte sie die Augen seit dem Unfall nicht mehr geöffnet. Die Ärzte hatten Lou und Oz deutlich gemacht, dass ihre Mutter körperlich zum größten Teil wiederhergestellt sei. Das Problem bestand jetzt anscheinend nur darin, dass ihre Seele aus dem Körper geflüchtet war.
    Später, draußen vor der Kirche, brachte der Leichenwagen Lous Vater fort, und Lou schaute ihm nicht einmal mehr nach. Im Kopf hatte sie sich von ihrem Vater bereits verabschiedet. In ihrem Herzen aber würde sie niemals Abschied von ihm nehmen können.
    Sie führte Oz durch die Reihen der dunklen Anzüge und Trauerkleider. Lou war der Trauermienen müde, der tränenfeuchten Blicke, die sich auf sie richteten, der Beileidsbekundungen, der Münder, die ob ihres herben Verlustes - und des Verlustes für die literarische Welt - eine Salve der Betroffenheit nach der anderen abfeuerten. Diese Leute! Deren Vater lag nicht tot in dem Kasten. Es war und blieb ganz allein ihr Verlust, ihrer und der ihres Bruders. Und Lou war es leid, sich für diese selbst für sie unverständliche Tragödie in ihrem Leben bei den Leuten entschuldigen zu müssen. »Es tut mir ja so leid«, säuselten sie. »Wie traurig. Ein großer Mann. Ein wundervoller Mann. Aus dem Leben gerissen auf
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