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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee
Autoren: Ursula K. Leguin
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ist längst weg. Hör mal, junger Mann, weißt du überhaupt, was Zinnober ist?«
    Otter schüttelte der Kopf.
    »Ich zeig dir welches. Darauf ist Gelluk aus. Das Erz vom Merkurwasser. Merkurwasser frisst alle anderen Metalle, sogar Gold, weißt du. Deshalb nennt er es den König. Wenn du ihm seinen König findest, behandelt er dich gut. Er ist oft hier. Komm, ich zeig dir's. Ein Hund kann keine Spur verfolgen, bevor er nicht die Fährte auf genommen hat.«
    Licky nahm ihn mit hinunter ins Bergwerk, um ihm die Gänge, die Art von Erdreich zu zeigen, worin das Erz am häufigsten vorkam. Ein paar Bergleute arbeiteten am Ende eines langen Ganges.
    Weil sie kleiner waren als Männer und sich in engen Räumen besser bewegen konnten, weil sie in der Erde zu Hause waren oder - wahrscheinlicher noch - weil es so üblich war, arbeiteten in den Bergwerken der Erdsee seit jeher Frauen. Diese Bergarbeiterinnen waren frei, keine Sklavinnen wie die Frauen im Röstturm. Gelluk habe ihn zum Aufseher über die Bergleute ernannt, erklärte Licky, aber er verrichte keine Arbeit im Bergwerk; die Frauen verboten es, da sie ernstlich glaubten, dass es für einen Mann kein schlimmeres Unheil geben könne, als eine Schaufel in die Hand nehmen oder einen Holzstamm an Land ziehen zu müssen. »Soll mir recht sein«, meinte Licky.
    Eine Frau mit hellen Augen, eine Kerze um den Haarschopf an die Stirn gebunden, setzte ihren Pickel ab, um Otter in einem Korb ein Stückchen Zinnober zu zeigen, bräunlich-rote Klumpen und Krümel. Schatten huschten über die Erdwand, an der die Frauen arbeiteten. Alte Holzbalken krachten, Erdreich rieselte. Obwohl ein kühler Lufthauch durch die Dunkelheit strich, waren die Tunnel und Stollen so niedrig und eng, dass sie gebückt gehen und sich überall hindurchzwängen mussten. An einigen Stellen war die Decke eingestürzt. Halb verfaulte Leitern. Das Bergwerk war ein Ort des Schreckens; und doch empfand Otter hier ein Gefühl der Geborgenheit. Halb bedauerte er es daher, wieder hinauf zu müssen ans gleißende Tageslicht.
    Licky führte ihn nicht in den Röstturm, sondern zurück zu den Hütten. Aus einem verschlossenen Raum holte er ein dickes, weiches Lederbeutelchen hervor, das schwer wog in seinen Händen. Er öffnete es und zeigte Otter den kleinen Teich aus staubigem Schimmer auf seinem Grund. Als er den Beutel wieder verschloss, bewegte sich das Metall darin, blähte sich und beulte ihn aus, als ob ein Tier darin eingeschlossen wäre, das ins Freie drängte.
    »Das ist der König«, sagte Licky in einem Ton, der Verehrung oder Hass bedeuten konnte.
    Obwohl kein Zauberer, war Licky doch viel gefährlicher als Hund. Wie Hund war er zwar gewalttätig, aber nicht grausam. Er verlangte Gehorsam, sonst nichts. Seinerzeit auf der Werft in Havnor hatte Otter Sklaven und ihre Herren gesehen, und er wusste, dass er es gut getroffen hatte. Zumindest bei Tageslicht, wenn Licky sein Herr war.
    Er konnte nur in der Zelle essen, wo man ihm den Knebel abnahm. Brot und Zwiebeln war alles, was sie ihm gaben, mit einem Schuss ranzigem Öl auf dem Brot. Hungrig, wie er jeden Abend war, brachte er sein Essen doch kaum hinunter, wenn er in dem Raum mit den Zauberbanden saß. Es schmeckte nach Metall, nach Asche. Die Nächte waren lang und schrecklich, da die Zauberbande auf ihm lasteten und ihn bedrückten und er immer wieder entsetzt hochfuhr, nach Luft rang und außerstande zum Nachdenken war. Es war völlig finster, denn in diesem Raum konnte er kein Werlicht leuchten lassen. Der Tag war ihm dann unsäglich willkommen, obwohl man ihm die Hände wieder auf den Rücken band, den Mund knebelte und ihm eine Leine um den Hals legte.
    Licky ging jeden Morgen früh mit ihm hinaus und oft streiften sie bis zum späten Nachmittag umher. Licky war still und geduldig. Er fragte nicht, ob Otter irgendeinen Hinweis auf Erze entdeckte; er fragte nicht, ob er nach dem Erz suchte oder so tat, als ob er suchen würde. Otter selbst hätte die Frage nicht beantworten können. Auf diesen ziellosen Wanderungen strömte die Kenntnis des Erdinnem in ihn ein, wie das früher gewesen war, und er versuchte, sich darauf zu konzentrieren. »Ich werde nicht im Dienst des Bösen arbeiten«, sagte er zu sich selbst. Dann stimmte ihn die Sommerluft milder, und mit rauen, nackten Füßen fühlte er das trockene Gras unter sich, und er wusste, dass sich unter den Graswurzeln ein Fluss durch die dunkle Erde schlängelte, über eine breite Glimmerschicht
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