Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Spektrum der Toten

Das Spektrum der Toten

Titel: Das Spektrum der Toten
Autoren: Hans Pfeiffer
Vom Netzwerk:
fotografieren. Er deckte ein Tuch über einen niedrigen runden Tisch. Das war das Schafott. Er zog seinen Trainingsanzug an. Der hohe, fast bis an die Ohren reichende Kragen der Jacke gab Caselo das Aussehen eines mittelalterlichen Edelmannes. Er stellte den Selbstauslöser ein und fesselte sich die auf den Rücken gelegten Hände. Er blickte auf die Uhr. Er hob das rechte Bein - der Gang zum Schafott beginnt. Klick, der Selbstauslöser. Er befreite sich von der Fesselung, stellte den Selbstauslöser neu ein, fesselte sich erneut, blickte auf die Uhr, hob das andere Bein. Klick, das nächste Bild: der Gefesselte vor dem Schafott. Dann: Er beugt sich nieder zum Schafott. Er legt den Kopf auf den Block. Das in vier Variationen fotografiert: von beiden Seiten, von hinten, frontal. Er fällt tot um.
    Caselo ließ den Film entwickeln. Er war zufrieden. Nur die letzten Bilder waren ein Problem. Der Enthauptete fiel tot nieder, aber leider saß ihm immer noch der Kopf auf dem Hals.
    Einen Erhängten könnte man überzeugender imitieren. Kinofilme zeigten ja auch Erhängte, und das sieht ganz realistisch aus. Caselo überlegte, wie man im Film einen Erhängten vortäuscht. Beim Erhängen wird im Hals der Luftweg abgeschnürt, dachte er, man erstickt. Und der Schauspieler, den Hals in der Schlinge, hält das so lange ohne Schaden aus, wie er den Atem anhalten kann. Und diese Zeit müsste für eine Fotoaufnahme mit Hilfe des Selbstauslösers ausreichen.
    So ging Caselo ans Werk. Am Oberlauf des Türstocks hing eine Ringschaukel. Er zog sie hoch und schob sie soweit wie möglich beiseite. An einem der Haken befestigte er einen Strick mit vier Schlingen. Er stellte das Stativ mit der Kamera auf und animierte den Selbstauslöser. Dann lehnte er eine Bockleiter an den Türpfosten und stieg einige Stufen empor. Er hängte die Taschenuhr an die Leiter und legte sich die Schlinge um den Hals. Klick. Die Aufnahme war im Kasten. Einstellung des nächsten Vorgangs. Wieder stieg er auf die Leiter, legte sich die Schlinge um, stieg langsam ein, zwei Stufen hinab, so dass sich der Strick spannte. Es klickte erneut. Nun zum dritten Bild. Wieder den Kopf in die Schlinge. Wieder einige Stufen hinab. Wieder spannte sich der Strick.
    Plötzlich rutschte Caselo aus. Sein Körper hing frei im Raum.
    Klick. Aber da war er schon tot. Er hatte nicht gewusst, dass der Tod augenblicklich und reflexhaft eintritt, wenn der Strick die Blutgefäße des Halses einschnürt.
    Die Gerichtsmediziner stellten bei der äußeren Besichtigung der Leiche fest, dass Caselo körperlich weit über sein Alter entwickelt war. Sie stellten eine rundum laufende, hinten offene, doppelte Strangfurche fest, ferner die beim Erhängungstod üblichen Erscheinungen. Doch die Obduzenten begnügten sich nicht mit der Bestätigung der zuvor schon vermuteten Todesursache. Es interessierten sie die außerordentlich merkwürdigen Begleitumstände des Todesfalles, vor allem die sozialen Beziehungen und die psychologischen Hintergründe. Sie erforschten gründlich das Umfeld des Toten, sprachen mit seinen Eltern und Geschwistern, Lehrern und Mitschülern. Die Aussagen der Befragten, die Auffindungsart der Leiche, die Fotos und Zeichnungen ergaben das »beunruhigende Bild« eines begabten, von seelischen Störungen heimgesuchten Jungen. Sie schlossen einen Selbstmord ebenso aus wie eine Geisteskrankheit. Sie entdeckten Anzeichen einer psychischen Fehlentwicklung, die jedoch nicht erkennen ließ, wie sie weiter verlaufen wäre, wäre Caselo nicht tödlich verunglückt.
    Caselos Familie war eine Familie mit autistischen Zügen. Äußerlich harmonisch, war sie dennoch in verschiedene isolierte Individuen zerfallen. Man war freundlich zueinander, wusste aber nichts vom anderen. Caselos älterer Bruder konnte nicht einmal genau den Beruf des Vaters angeben. Die Mutter war neurotisch und überließ die Kinder sich selbst.
    Caselo galt vor der Pubertät als sehr aggressiver Einzelgänger. In der Pubertät änderte sich das, er fand guten Kontakt zu seinen Mitschülern und entwickelte zahlreiche schulische Aktivitäten. Er las viel, meist geistreiche Werke, bastelte, mühte sich mit technischen Erfindungen ab, zeichnete.
    Was er jedoch über das Leben, die Menschen und sich selber dachte, blieb weitgehend im Verborgenen. Es läßt sich nur aus seinen Zeichnungen erahnen. Wahrscheinlich war er viel sensibler und verletzlicher, als man vermutete. Möglicherweise richtete sich die kindliche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher