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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind
Autoren: Sandra Luepkes
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Schule? Mehr als acht Monate. Trotzdem hat er meinen Namen nicht vergessen.
    Das ist nett von ihm. Ich nicke ihm zu.
    «Wie geht es dir? Mensch, du hast deine Haare ein bisschen wachsen lassen, es sieht hübsch aus.» Er ist Deutscher, aber sein Rumänisch ist absolut okay. Er ist schon seit ein paar Jahren in Arad, ich glaube, er hat eine Einheimische geheiratet. «Du solltest dich mal wieder bei uns sehen lassen!»
    «Ich weiß …»
    «Soweit ich informiert bin, wartet sogar ein Brief auf dich. Von Aurel aus Deutschland.»
    «Ja?» Mein Herz pocht.
    «Liegt schon seit ein paar Wochen in der Ablage im Flur.»
    «Was steht drin?»
    Der Sozialarbeiter zuckt die Schultern. «Wir nehmen das Briefgeheimnis ernst. Du musst ihn schon selbst öffnen, schließlich steht dein Name auf dem Umschlag.»
    Ich seufze, und als könnte er meine Gedanken erraten, fügt er hinzu: «Und wenn es mit dem Lesen nicht so ganz hinhaut, dann helfen wir dir gern. Komm doch gleich mit!»
    Ich bleibe sitzen. «Ich kann nicht. Gleich kommt ein Zug.»
    «Wen erwartest du denn?»
    «Aurel. Er wollte heute zurückkommen.»
    «Wann hat er das gesagt?»
    «Als er gefahren ist.»
    «Also vor einem Jahr?»
    Ich nicke, und auf einmal wird mir bewusst, wie seltsam es ist, auf eine Verabredung zu warten, die vor so langer Zeit getroffen wurde. Es ist so vieles geschehen in den letzten zwölf Monaten. Nicht nur die Sache mit László. Das war ja nur eine von vielen. György ist verschwunden, genau wie die kleine Veronica, die seit mehr als sechs Wochen kein Mensch gesehen hat. Und das sind nur die Kinder, die zu meiner Gruppe gehören. Ich weiß, dass es bei den anderen Gangs ähnlich ist.
    Der Mann legt mir die Hand auf die Schulter, und ich schrecke zusammen, weil ich so in Gedanken vertieft war. «Was ist los, Teresa? Kommst du nun mit?»
    «Ich kann ja ganz kurz …», sage ich. Das Prim ặvarặ ist nicht so weit vom Bahnhof entfernt. Wenn ich mich beeile, bin ich in einer Stunde wieder zurück. Ich laufe ihm also hinterher, er hat einen watschelnden Gang, hebt die Füße nicht richtig beim Gehen, hält den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Wie eine Ente, denke ich und muss lachen.
    «Was ist so lustig, Teresa?», fragt er, und in diesem Moment fällt mir auch sein Name wieder ein: Roland. Es ist, als sei die Erinnerung unter einem Wirrwarr verborgen gewesen und die wenigen Schritte aus dem Bahnhof heraus hätten den chaotischen Haufen zum Einfällen gebracht und den Namen freigelegt: Roland Peters, Lehrer für Deutsch und Rumänisch. Er bringt den Straßenkindern seine Landessprache bei, damit sie eine Chance haben, dort ein Jahr als Haushaltshilfe oder Kindermädchen zu arbeiten. Und die meisten, die dann dort waren, schaffen es auch nach ihrer Rückkehr, hier einen richtigen Job zu finden. Deswegen ist es so wichtig, Deutsch zu lernen. Aurel, du hast das gleich kapiert, hast es geschafft, hast Roland Peters in der Schule immer gut zugehört und bist dann ins gelobte Land gereist. Ich mache mir da keine Hoffnungen, jemals so weit zu kommen. Die Sprache ist so seltsam eckig, in meinen Ohren klingt sie hart und verdreht. Und ich bin ja schon froh, dass ich die einfachen rumänischen Wörter lesen und schreiben kann. Eine Fremdsprache zu lernen ist unvorstellbar.
    «Ich freue mich, dass es dir gutgeht», sagt Roland Peters schließlich, nachdem er erkannt hat, dass ich seine Frage nicht zu beantworten gedenke. «Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Teresa. Ganz oft haben wir über dich gesprochen. Du bist uns nicht gleichgültig, weißt du?»
    Und genau das ist es, was ich an den Prim ặvarặ- Leuten nicht ausstehen kann. Dieses Gerede, dass man denen nicht egal ist. Immer wieder kommen sie einem damit, und ich hasse es, denn wenn man ein Leben lang daran gewöhnt ist, allen anderen Menschen egal zu sein, dann macht einen so ein Haufen Mitgefühl ganz verrückt. Aber ich will diesen Brief haben, also laufe ich dem Entenmann brav hinterher, folge ihm durch die Calea L. Maniu. Hier bekommt man nicht viel mit von dem Mai und dem Frühling, hier riecht es nur nach Straßenmüll und den zahlreichen Autos, die uns beide überholen, während wir schweigend nebeneinanderher und an den grauen Häuserfronten entlanglaufen.
    Die Straße, in der die Schule steht, ist ruhiger, denn sie ist nur an einer Seite bebaut. Auf der anderen Seite ist eine Grünfläche mit einem hübschen Teich. Roland geht schneller, je näher wir dem hellbeige getünchten Haus
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