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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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unausweichlicher Wucht. Im Frühjahr 1975. D’Amico, sein bester Freund, mit dem er die Gymnasialzeit verbracht hatte, kam ums Leben, und sein Tod schleuderte Mark aus der Bahn. Im Übrigen weigerte er sich, das Ereignis zur Kenntnis zu nehmen: Er versank im Koma, aus dem er erst sechs Tage später ins Bewusstsein zurückkehrte. Beim Erwachen erinnerte er sich an nichts, weder an die Entdeckung der Leiche noch an die wenigen Stunden vor der Katastrophe.
    Sehr bald begriff er, dass ihn der Unfall nicht einfach nur maßlos erschüttert hatte, sondern auch eine perfide unterschwellige Wirkung entfaltete: Seine Musikalität hatte sich verändert. Wenn er jetzt am Klavier saß, beschlich ihn ein fatales Unbehagen, ein Abscheu, der ihn zwar nicht am Spielen hinderte, doch jegliche Empfindsamkeit untergrub und aus seiner Interpretation eine mechanische Aneinanderreihung von Tönen werden ließ. Ein Spalt hatte sich aufgetan, der immer weiter auseinander klaffte. Alle seine Hoffnungen schwanden dahin, das Konservatorium, die Wettbewerbe, die Konzerte … Seinen Eltern sagte er nichts davon, auch nichts dem Psychiater, den er seit seinem Koma regelmäßig aufsuchte. Sein Musikabitur bestand er mehr schlecht als recht, doch die Saite war gerissen: Die Hoffnung, sich je über andere Virtuosen erheben zu können, einen wie auch immer gearteten Beitrag zur Geschichte der großen Interpreten zu leisten, konnte er begraben. Deshalb entschied er sich stattdessen für die Literatur und schrieb sich an der Sorbonne ein.
    Er war mitten in der Magisterprüfung, als in kurzem Abstand hintereinander seine Eltern starben. Am selben Krebs. Mark, noch halb betäubt von seinem letzten Trauma, erlebte die Tragödie wie aus weiter Ferne. Er hatte ohnehin nie sehr an den beiden gehangen, dem Apothekerehepaar aus Nanterre, das für seine Ambitionen kein Verständnis hatte. Sie hatten ihn immer an zwei Fahrkartenzangen denken lassen, die sich in ein und dasselbe Ticket verbissen hatten – was hatten sie mit seinen Träumen von einer weltfernen Musikerlaufbahn gemein? Mark hatte noch eine Schwester, die nach demselben kleinbürgerlichen Muster gestrickt war und nichts Eiligeres zu tun hatte, als die Apotheke zu übernehmen. Antritt der Nachfolge, Antritt des Erbes.
    Mark beendete seine Magisterarbeit, »Apuleius und die Metamorphosen des Wortes«, und lernte anschließend den Arbeitsmarkt kennen. Mit großer Sorgfalt verfasste er Lebenslauf und Bewerbung und kam sich vor wie ein Schiffbrüchiger, der eine Flaschenpost nach der anderen auf den Weg schickt, aber nur das Etikett verschönt, weil in der Flasche keine Botschaft ist. Wer konnte auf dem gegenwärtigen Arbeitsmarkt einen Spezialisten für neuplatonische Dichter brauchen? Er bewarb sich in allen Bereichen, in denen seine redaktionellen Fähigkeiten gefragt sein könnten: Journalismus, Werbung, Verlagswesen … Im Grunde war ihm alles egal: Er litt nach wie vor an seiner inneren Wunde, dem Verlust der Musik.
    Das Wunder geschah. Eine Lokalzeitung schickte eine positive Antwort. Ein kleines Blättchen mit Sitz in Nîmes, aber das spielte keine Rolle: Das Wichtigste war, dass man ihn fürs Schreiben bezahlen wollte! Mit Feuereifer widmete er sich seinem neuen Beruf. Er begeisterte sich für den Süden Frankreichs und fand all die Klischees über den malerischen Midi bestätigt – die Sonne, die weiten goldenen Ebenen, die Pastelltöne von Lavendel und Rosmarin. Jedes sinnliche Empfinden war für ihn wie eines dieser kleinen Säckchen mit getrockneten Kräutern, die man zwischen die Wäsche schiebt. Die Düfte drangen in ihn ein und erfüllten ihn mit einer heimlichen, gedämpften Süße.
    Die Jahre vergingen. Er kam voran, verdiente besser. Seinen Anteil an der Familienapotheke verkaufte er seiner Schwester und erstand dafür ein Haus in der Umgebung von Sommières. Dort hatte er seinen Freundeskreis, seine festen Gewohnheiten und einen Kreis von »Verlobten«. Mit dreißig Jahren war er ein Kind des Südens geworden. Der Tod seines Freundes schien ferne Vergangenheit, sein einziges Bestreben galt jetzt dem Schreiben – und natürlich trug er sich inzwischen mit dem Plan zu einem Roman. Jeden Morgen stand er früher auf, um an seinem »Meisterwerk« zu schreiben. Vor allem aber waren seine psychischen Störungen nahezu verschwunden. Zwar ging er noch immer zu einem Therapeuten in Nîmes, doch seine Albträume wurden seltener. Und das Rot, dieses Rot, das manchmal seinen Schädel inwendig
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