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Das Schlangennest

Das Schlangennest

Titel: Das Schlangennest
Autoren: Anne Alexander
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Er nahm Joyces Händchen und führte sie zu einem Sessel. Als sich Daphne zu ihrer Nichte setzen wollte, schüttelte er den Kopf. "Du bist doch groß genug, um alleine zu sitzen, Joyce?" fragte er die Kleine.
    Joyce nickte.
    "Soll ich draußen bei Doktor Gregson und Robert warten?" fragte Daphne.
    "Nein, das ist nicht nötig." Der Arzt wies ihr einen Platz hinter Joyce zu, so daß die Kleine sie nicht sehen konnte. Langsam und gekonnt versetzte er das Kind in Hypnose und führte es wieder in die Nacht zurück, in der Sir Robert e rmordet worden war.
    Es war wie bei den vorhergehenden Sitzungen. Joyce antwo rtete einsilbig auf die Fragen des Psychotherapeuten. Sie berichtete, wie der Mond sie geweckt hatte und sie die Treppe zur Bibliothek hinuntergestiegen war.
    "Ist die Tür zur Bibliothek offen, Joyce?" fragte Dr. Mi ller.
    "Geschlossen."
    "Und du öffnest sie?"
    "Ja."
    "Siehst du deinen Daddy?"
    "Ja."
    "Wo ist dein Daddy."
    "Steht beim Kamin."
    "Ist er alleine?"
    "Nein." Joyce verkrampfte ihre Hände im Polster des Se ssels.
    "Wer ist bei ihm?"
    "Frau."
    "Spricht dein Daddy mit der Frau?"
    "Ja."
    "Was sagt er?"
    Daphne spürte, wie ihr Atem langsamer wurde.
    "Du mußt verrückt sein", erwiderte Joyce langsam. "Das kannst du nicht tun."
    "Hat dein Daddy Angst?"
    "Ja."
    "Wovor hat er Angst?"
    "Das Messer." Joyce wurde unruhig. "Daddy... Daddy..." b egann sie zu wimmern.
    "Es ist alles gut, Joyce", versuchte Dr. Miller die Kleine zu b eruhigen. "Du mußt dich nicht fürchten. Wir sind bei dir, das weißt du doch." Seine Stimme klang einschmeichelnd. "Sagt dein Daddy noch etwas?"
    "Nein." Joyce begann zu schluchzen.
    Daphne brauchte ihre ganze Beherrschung, um nicht aufzuspringen und Joyce an sich zu reißen. Es fiel ihr schwer, Dr. Miller nicht zu stören, aber sie wußte, daß dieser Schmerz für ihre Nichte wichtig war, um wieder seelisch gesund zu werden.
    "Wie sieht die Frau aus?"
    "Kein Gesicht", antwortete Joyce.
    "Was hat sie an?"
    "Weißes Kleid."
    "Und was noch?"
    "Schuhe."
    "Weißt du, wem diese Schuhe gehören?"
    "Mommy."
    Daphne sah den Arzt bestürzt an. "Deiner Mutter gehören die Schuhe, Joyce?" fragte er.
    "Ja."
    "Ist die Frau deine Mutter?"
    "Nein."
    Daphne atmete erleichtert auf. Auf ihrer Stirn hatten sich feine Schweißtröpfchen gebildet. Trotz des warmen Sommertages fror sie.
    "Was tut die Frau."
    "Daddy weh." Joyce weinte jetzt laut auf. "Nein... nein... Da ddy... Daddy..."
    "Dein Daddy spürt es nicht", sagte der Arzt. "Hab keine Angst. Wir sind noch immer bei dir und passen auf dich auf." Er warf Daphne einen beruhigenden Blick zu. "Was tust du jetzt, Joyce?"
    "Geh weg."
    "Wohin gehst du."
    "Bett."
    "Jetzt bist du also in deinem Bett. Schläfst du wieder richtig ein?"
    "Ja."
    "Dann schlaf gut, Joyce. Schlaf ruhig und fest. Wenn du au fwachst, wird alles wieder gut sein."
    Joyces Züge entspannten sich. Sie schlief tatsächlich ein. Wie ein kleines Kind steckte sie den Daumen in den Mund.
    Daphne stand auf. Sie wünschte sich so sehr, daß die Behandlung endlich einen konkreten Erfolg mit sich brachte. Joyce mußte wieder sprechen. Sie durfte nicht länger schweigen.
    Dr. Miller weckte das kleine Mädchen auf. Es blinzelte ins Sonnenlicht. Sein eben noch entspanntes Gesicht, wirkte plötzlich verhärmt. "Mommy ist tot", sagte es dumpf.
    Daphne hielt den Atem an. Joyce hatte gesprochen! Sie konnte es kaum fassen. Es fiel ihr schwer, die Kleine nicht sofort in die Arme zu reißen.
    "Ja, deine Mom tot, Joyce", bestätigte Dr. Miller. "Das ist sehr traurig, doch es passiert vielen Kindern, daß ihre Eltern sterben."
    "Daddy ist auch tot." Joyce drehte sich ihrer Tante zu. Sie rannte zu ihr. "Bleibst du jetzt immer bei uns, Tante Daphne? Ich will nicht, daß du wieder fortgehst."
    "Ich bleibe bei euch", versprach die junge Frau den Tränen n ahe. "Hab keine Angst, Lovely. Glaube mir, es wird alles wieder gut."
    Zärtlich nahm sie ihre Nichte in den Arm. Zum ersten Mal seit Lauras Tod konnte Daphne wieder frei durchatmen. Zwar wußten sie noch immer nicht, wer ihren Schwager und ihre Schwester ermordet hatte, aber Joyce konnte wieder sprechen und das e rschien ihr wie ein kleiner, heller Silberstreifen am dunklen Horizont.
     
    23.
    "Es ist wunderbar, daß Joyce wieder sprechen kann", meinte Bruno Forest und blickte zu den Kindern hinunter, die vor der Terrasse mit den Hunden tollten. "Früher ging ihr Plappermäu lchen den ganzen Tag. Erst jetzt wird mir bewußt, was ich die ganze Zeit über
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