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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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berührten fast die steinernen Verzierungen.
    Direkt vor ihm kräuselte sich der Rauch aus dem Rosettenfenster an Blendarkaden der Fassade höher. Er teilte sich und wurde wenig höher von einem Schattenspiel unter dem hohen First des Daches verschluckt.
    Der Eingang zum Inneren Altar !
    Ein Ruck ging durch die schwankende Flugmaschine. Es war, als würde das Schiff im Luftmeer plötzlich wieder den Druck von Segeln, Rudern und die Hand des Steuermanns spüren.
    Guntram atmete tief durch. Er konzentrierte sich auf die Öffnung, in der der Rauch verschwand. Behutsam zwang er die Flugmaschine zum Anlegen der Flügel. Schwerfällig, aber ohne Widerstand ließ sich der goldene Vogel mit seiner Fracht aus Eis und Wasser in sein steinernes Nestloch lenken.
    Es knirschte, als der goldene Leib auf Balken aufsetzte, die halb aus dem Versteck hervorkamen. Eine geheimnisvolle Mechanik drehte die Flugmaschine um hundertundachtzig Grad, ehe sie mit dem Schwanz zuerst nach innen gezogen wurde.
    *
    Goetz war so schnell er konnte im Südturm nach oben gestiegen. Jetzt kletterte er im letzten Abendlicht in die Welt seiner kleinen Verwandten.
    Dichter Rauch nahm ihm die Sicht. Nur in der Mitte des Sakriversums konnte er schemenhaft rötliche Flammen erkennen. Im ersten Moment wollte er einfach nach vorn stürzen, doch dann hatte er Angst, unbeabsichtigt jemanden zu verletzen.
    Für eine volle Minute stand er vorgeneigt auf der Innenseite des Rosettenfensters. Er lauschte in die Dunkelheit, aber nicht einmal von dem fünfzig, sechzig Meter entfernten Feuerschein war irgendein Geräusch zu hören.
    Er ärgerte sich, daß er keine Lampe mitgenommen hatte. Er hatte sich in überstürzter Hast geduscht und angezogen. Als er mit seinem Vorratssack das Hauptportal erreichte, hatte er gesehen, wie die goldene Flugmaschine hoch über ihm von einem Turm zum anderen schwankte.
    In diesem Augenblick hatte er etwas getan, was früher beten genannt worden wäre. Ob das geholfen hatte oder die Konzentration aller Gedanken auf Guntram, wußte er nicht - aber die Flugmaschine war nicht abgestürzt ...
    Die Stille unter dem Kathedralendach war so gespenstisch, daß Goetz sich plötzlich fragte, ob alles nicht nur Halluzination gewesen sein konnte: Fieberträume des letzten Menschen, in dessen Körper sich der Strahlentod immer weiter fraß ...
    Und die Flammen?
    Fast fünfzig Tage nach der Katastrophe konnte sich immer noch Abfall selbst entzünden! Auch unter dem Dach einer gotischen Kathedrale!
    Er merkte, wie er langsam in Panik geriet. In der vergangenen Woche hatte er mehr durchgemacht als in den fünfundzwanzig Jahren davor. Er war durch ein Wechselbad aus Emotionen, Ereignissen und Reaktionen seines kranken Körpers getaumelt. Selbst stärkere, gesündere Naturen hätten es schwer gehabt, darüber nicht den Verstand zu verlieren!
    Irgend etwas bewahrte ihn auch jetzt davor, laut schreiend umzukehren und in die Welt zurückzurennen - so lange und so weit, bis ihn die Hölle draußen endlich sterben ließ.
    Er schämte sich über seine Mutlosigkeit. Auch wenn Guntram und die anderen nur als Traumbilder gelebt hatten - wenn all die Bilder und Erlebnisse nur Archetypen seines Unterbewußtseins gewesen waren - selbst dann gab es sie!
    Sie existierten ebenso wie alle anderen Gedanken, die jemals gedacht worden waren!
    Es kam nicht darauf an, etwas real zu sehen und erst dann und deswegen für wahr zu halten. Die eigentliche Kraft des Lebens war vielmehr die Freiheit, alles zu denken, zu fühlen und zu glauben.
    Pythagoreisches Lehrsatzdenken ließ nur noch zu, was auch beweisbar war - nach Maßstäben der menschlichen Erkenntnis beweisbar: physisch, rational und logisch!
    Knapp siebenhundert Jahre nach dem Beginn des »wissenschaftlichen« Denkens und dreihundert Jahre nach der »Aufklärung« hatte die Menschheit endgültig mit allen »Illusionen« von Frieden, Glück und Harmonie Schluß gemacht.
    Q. E. D. - was zu beweisen war!
    Goetz schüttelte unwillkürlich den Kopf. War es denn wirklich so entsetzlich »unlogisch« gewesen, an eine höhere Ordnung zu glauben? An eine Kraft, die auch die Synchrotrone nicht mehr in Myonen, J/psi-Teilchen oder Quarks zerlegen konnten?
    Er schulterte den Vorratssack und betrat den Wald. Die Bäume reichten ihm bis zu den Schultern. Durch ihre Wipfel zogen Schwaden dichten Rauchs.
    *
    Als Guntram die Flugmaschine verließ, plätscherte überall Wasser aus dem Bauch des goldenen Vogels. Es sammelte sich in Rinnen
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