Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Raetsel von Flatey

Das Raetsel von Flatey

Titel: Das Raetsel von Flatey
Autoren: Viktor Arnar Ingólfsson
Vom Netzwerk:
›Rabe‹.«
    »Ja, die Burschen können
segeln«, sagte Högni. »Der alte Jón
Ferdinand war früher zu seinen besten Zeiten einer der
geschicktesten Bootsführer im ganzen
Breiðafjörður. Kaum jemand konnte besser mit einem
Boot unter Segeln umgehen. Der Mann ließ bei günstigem
Wind die Schiffe buchstäblich über die Wellen
hüpfen. Einmal ist er mit einer Schute nach
Króksfjarðarnes geschickt worden, um Wanderarbeiter auf
die Inseln zu bringen. Auf dem Rückweg lenzte er in einem
harten Wind allein unter der Fock und brauchte nur vier Stunden
für die Überfahrt nach Flatey. Er hatte zwar den
Gezeitenstrom mit sich, aber trotzdem bin ich davon überzeugt,
dass ihm das nur wenige hätten nachmachen
können.«
    Bald hatten sie die
äußersten Schären bei Flatey passiert und nahmen
Kurs auf eine entfernte Inselgruppe im Süden.
    Kjartan graute es davor, ans Ziel zu
kommen. Er hatte schon einmal einen Toten gesehen, und die
Erinnerung daran war alles andere als angenehm. Die Aufgabe, die
ihnen jetzt bevorstand, war höchstwahrscheinlich noch
unangenehmer. Trotzdem versuchte er, sich interessiert zu geben,
als Grímur ihm unterwegs erklärte, was es zu sehen gab,
die Inseln, Schären und Berge in der Ferne. Der
Svefneyjar-Archipel lag backbord und der Berg Klofningur auf dem
Festland steuerbord voraus.
    Als sie sich Ketilsey näherten,
flog eine Mantelmöwe auf und kreischte. Das Meer schlug gegen
die Klippen, von denen die Seehunde sich ins Wasser
stürzten.
    »Sie haben ein Abkommen«,
erklärte Grímur. »Die Mantelmöwe wacht,
während die Seehunde auf den Klippen schlafen. Im Gegenzug
kriegt sie manch guten Bissen ab, wenn die Seehunde auf Jagd gehen.
Ihr schmeckt die Leber am besten.«
    *
    ... Als diese uralten Geschichten
auf Pergament aufgezeichnet wurden, geschah das nur in einer
Fassung von vielen. Zuvor waren sie erst mündlich und dann in
einigen älteren Handschriften überliefert worden. Jede
Generation behandelte sie auf ihre Weise. Mein Vater hat mir
Geschichten aus diesem Buch so wie Märchen erzählt, als
ich klein war. Ich selbst habe mir dann auch einen eigenen Stil
zugelegt, in dem ich meine Lieblingsgeschichten auf meine Weise
erzähle ...

Fünf
    Obwohl Ketilsey keine große Insel ist,
hatten sie einige Mühe, die Leiche zu finden. Nachdem sie das
Ufer abgesucht hatten, nahmen sie sich die höher gelegenen
Teile der Insel vor. Dem Gemeindevorsteher und dem Lehrer riss
langsam der Geduldsfaden.
    »Wir hätten Valdi
mitnehmen sollen, der hätte uns direkt zu der Stelle
geführt«, meinte Högni.
    Grímur war skeptisch:
»Dann hätte der Alte auch mitkommen müssen, und
wahrscheinlich der Kleine auch. Die kann man nicht alleine
zurücklassen.«
    Er nahm die Schirmmütze ab und
wischte sich mit einem roten Schnupftuch den Schweiß von der
Stirn.
    »Hat der Mann denn nicht
gesagt, wo wir zu suchen haben?«, fragte
Kjartan.
    »Nein, verflixt nochmal. Ich
bin davon ausgegangen, dass der Tote hier am Ufer nicht weit von
der Anlegestelle liegen würde und dass wir einfach nur dem
Geruch nachgehen müssten.«
    »Vielleicht hat das Meer ihn
wieder weggespült?«, überlegte
Kjartan.
    Grímur schüttelte den
Kopf. »Nein, das ist bei Nipptide unwahrscheinlich, und
überdies hat es überhaupt keinen Wellengang gegeben, seit
die drei hier waren.«
    Högni beobachtete mit
gerunzelten Brauen einige Mantelmöwen, die über ihnen
schwebten. »Ob vielleicht die verdammten Möwen in der
Zwischenzeit für den Rest gesorgt haben?«, gab er zu
bedenken.
    Schließlich war es Kjartan, der
beinahe über die Leiche gestolpert wäre, als er zwischen
den Felsen suchte. Der grüne Anorak hatte eine ähnliche
Farbe wie das Gras rundherum. Die Kapuze war über den
Schädel gezogen, sodass nur ein kleiner Teil des nackten
Schädels zu sehen war. Hosen und Schuhe verhüllten den
unteren Teil des Körpers. Es roch nach Verwesung, und
über der Leiche wimmelte es von Fliegen.
    »Er ist hier«, rief
Kjartan mit einer Stimme, die er kaum als seine eigene
wiedererkannte.
    Die Männer waren bald zur
Stelle, der Gemeindevorsteher als Erster.
    »Hier herrschen keine
Wohlgerüche, sprach Grettir der Starke, als er in den
Grabhügel kam«, deklamierte er und
hustete.
    »Hier oben liegt er
also«, sagte Högni verwundert, als er sich umgeschaut
hatte. »Es muss ja ganz schön hoch hergegangen sein,
wenn das arme Schwein von den Wellen bis hier hinauf geschleudert
wurde.«
    »Ausgeschlossen«,
erklärte Grímur. »Bis hier oben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher