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Das Rätsel der Rückkehr - Roman

Das Rätsel der Rückkehr - Roman

Titel: Das Rätsel der Rückkehr - Roman
Autoren: Verlag Das Wunderhorn <Heidelberg>
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Hilfskrankenschwestern im Krankenhaus von Brooklyn. Für die meisten war er der junge Mann geblieben, der eines Tages gegen die Machtwillkür des Präsidenten-Generals rebellierte. Ihre glorreiche Jugend.
    Zum ersten Mal
    sehe ich ihn so nah.
    Ich müsste nur die Hand ausstrecken,
    um ihn zu berühren.
    Aber ich unterlasse es,
    um den Abstand zu halten,
    den er zwischen uns wollte,
    als er noch lebte.
    Ich erinnere mich an die Passage in
Zurück ins Land der Geburt
, wo Césaire den Leichnam von Toussaint Louverture zurückfordert, der von Napoleon gefangengesetzt wurde und im Winter 1803 im Fort Joux in Frankreich den Kältetod starb. Die Lippen des Dichters beben vor zurückgehaltener Wut, als er 150 Jahre später den erfrorenen Leib vom Helden des Sklavenaufstands zurückverlangt: „Mein ist: Ein Mann, allein in weißer Gefangenschaft.“ 4
    Eine Frau in einem langen weißen Persianermantel
    steht diskret hinter der letzten Säule.
    Ein Lächeln so zart, fast unsichtbar für das Auge.
    Ein Lächeln im Glauben,
    dass der Tod nie die Erinnerung löschen wird
    an einen gewissen Sommernachmittag
    in einem überhitzten Zimmer von Brooklyn.
    Bis zum Ende
    vielleicht schmutzig
    vielleicht verrückt,
    war mein Vater immer
    der Dandy geblieben.
    Es gibt keine Erklärung für Charme.
    Ich frage mich, wen man beweihräuchert,
    wenn der, von dem die Rede ist,
    nichts mehr hört.
    Einer seiner alten Genossen erzählt eine Anekdote,
    die wohl alle erheitert.
    Ich höre von fern ihr Lachen.
    Mein Vater liegt in seinem Sarg dicht neben mir.
    Ich bewache ihn aus dem Augenwinkel.
    Ein zu blendend helles Gestirn,
    um es voll anzublicken.
    Das ist ein toter Vater.
    Eines ist sicher, mein Vater ist nicht tot, bevor es diese Frau erfahren hat. Im Moment sitzt sie in Port-au-Prince auf ihrer Galerie und denkt mal wieder an ihn. Das tat sie jedenTag, seitdem er fortging. Weiß sie, dass der Wind vor seiner Tür in den letzten Tagen so stürmte, dass er den Baum umgerissen hat, von dem ich nur ein kleiner Ast bin?
    Draußen bläst ein echter Tropensturm.
    Abgebrochene Äste von den Bäumen.
    Taxis schlingern wie betrunken
    auf der Fifth Avenue.
    Der Leichenwagen gleitet unbeirrbar übers Wasser
    als wären wir in Baradères, dem Geburtsort
    meines Vaters, der als das Venedig Haitis gilt.

Das kleine Zimmer in Brooklyn
    Mein Vater lebte in einem kleinen, fast leeren Zimmer. Meine Onkel zeigten es mir nach diesem verregneten Begräbnis auf dem Friedhof von Brooklyn. Er hatte gegen Ende auf alles verzichtet. Sein Leben lang war er ein Einzelgänger, obwohl ihn seine politische Tätigkeit mit Leuten zusammenführte. Seit zwanzig Jahren ging er täglich zu Fuß sommers wie winters den Weg von Brooklyn nach Manhattan hin und zurück. Dieses unablässige Kommen und Gehen war sein ganzes Leben. Als einzige Habe war ihm ein Koffer geblieben, den er in der Chase Manhattan Bank aufbewahren ließ.
    Mein Vater hat
    mehr als die Hälfte
    seiner Zeit
    fern von seinem Land
    seiner Sprache
    und seiner Frau gelebt.
    Vor einigen Jahren klopfte ich an seine Tür. Er antwortete nicht. Ich wusste, dass er im Zimmer war. Ich hörte sein lautes Atmen hinter der Tür. Da ich eigens von Montréal hergekommen war, gab ich natürlich nicht auf. Ich höre noch jetzt, wie er schreit, er habe nie ein Kind gehabt, oder eine Frau, oder ein Land. Ich war zu spät gekommen. Der Schmerz, fern von den Seinen zu leben, war so unerträglich geworden, dass er wohl seine Vergangenheit aus dem Gedächtnis löschen musste.
    Ich frage mich
    wann hat er gewusst,
    dass er nie mehr
    nach Haiti zurückkehren würde.
    Und was hat er in diesem Moment
    genau empfunden?
    Woran dachte er
    in seinem kleinen Zimmer in Brooklyn
    während der langen eisigen Nächte?
    Draußen spielte sich zwar das Spektakel
    der lebendigsten Stadt der Welt ab.
    Aber in diesem Zimmer war nur er.
    Der Mann, der alles verlor
    so früh im Leben.
    Ich versuche ihn mir in seinem Zimmer vorzustellen, die Gardinen zugezogen, während er von seiner Stadt träumt, die der so ähnlich ist, die der wütende junge Césaire beschreibt: „Und in dieser trägen Stadt diese lärmende Menge so erstaunlich stumpf ihrem Schrei gegenüber, wie diese Stadt ihrer Bewegung, ihrem Sinn gegenüber, unbewegt ihrem wahren Schrei gegenüber, dem einzigen, den man sie gern hätte schreien hören, weil man ihn als ihren einzigen spürt …“ 5 Der Schrei ist ihm im Hals stecken geblieben.
    Meine Onkel wollen, dass ich seinen einzigen
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