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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid
Autoren: Terry Pratchett
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Verglichen mit dem, was eine Hexe sonst oft zu Gesicht bekam, war ein hosenloser Riese nun wirklich nicht der Rede wert.
    Nein, Tiffany beneidete Petulia nicht um ihre Romanze, die sich vermutlich größtenteils in schweren Stiefeln, unvorteilhaften Gummischürzen und im Regen abspielte – ganz zu schweigen von dem ständigen Gegrunze und Gequieke.
    Nein, sie beneidete sie um ihre Vernunft . Petulia hatte ihr Leben im Griff. Sie wusste genau, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte. Sie krempelte die Ärmel hoch und sorgte selbst dafür, dass ihre Wünsche wahr wurden. Wenn es sein musste, auch bis zu den Knien in Schweinen watend.
    Alle Familien, selbst diejenigen, die oben in den Bergen wohnten, hielten sich mindestens ein Schwein, das im Sommer als Mülltonne fungierte und den Rest des Jahres über als Braten, Speck, Schinken und Wurstkette Verwendung fand. Das Schwein war wichtig . Eine kranke Großmutter wurde unter Umständen einfach mit Terpentin behandelt, aber wenn das Schwein unpässlich war, ließ man sofort eine Schweinehexe kommen und entlohnte sie sogar für ihre Dienste. Und nicht zu knapp. Und meistens mit Würsten.
    Als wäre das alles des Guten noch nicht genug, verstand sich Petulia auch noch wie kein anderer auf die edle Kunst des Schweinlullens. In diesem Jahr hatte sie sogar die Meisterschaft gewonnen. Tiffany fand, dass man sich für das, was ihre Freundin mit den Schweinen anstellte, kein treffenderes Wort hätte ausdenken können. Petulia setzte sich zu einem Schwein und erzählte ihm mit sanfter, ruhiger Stimme so lange extrem langatmige und langweilige Geschichten, bis irgendwann ein seltsamer Schweinemechanismus einsetzte: Mit einem letzten wohligen Gähnen streckte das Tier alle viere von sich und verwandelte sich vom lebenden Borstentier in eine wichtige Bereicherung des familiären Speisezettels. Für das Schwein war dieses Ende vielleicht kein glückliches, aber immerhin doch ein wesentlich appetitlicheres und friedlicheres als das, welches ihm vor der Erfindung des Schweinlullens geblüht hätte. So waren im Großen und Ganzen alle Beteiligten recht gut bedient.
    Tiffany, allein inmitten der Menschenmenge, seufzte. Man hatte es eben nicht leicht, wenn man den schwarzen spitzen Hut trug. Denn ob man es wahrhaben wollte oder nicht: Die Hexe war nun mal der Hut, und der Hut war die Hexe. Und vor diesem Hut waren die Menschen stets auf der Hut. Er flößte ihnen Achtung, aber auch ein gewisses Maß an Furcht ein, als könne man ihnen in den Kopf gucken. Womit sie vermutlich gar nicht mal so schieflagen. Wozu hatte man schließlich seine Hexenmethoden, wie den Ersten Blick und die Zweiten Gedanken? 6 Doch das war eigentlich keine Magie. Diese Methoden konnte jeder lernen, der auch nur ein Quäntchen gesunden Menschenverstand besaß – manchmal war jedoch selbst dieses kleine Quäntchen schon zu viel verlangt. Oft kamen die Menschen vor lauter Leben gar nicht dazu, sich nach dem Sinn zu fragen. Dafür waren dann die Hexen da, und deshalb wurden sie gebraucht, und zwar dauernd, oh ja. Das hieß allerdings noch lange nicht, dass sie auch erwünscht waren. Was man sie auf eine betont höfliche und deutlich unausgesprochene Art und Weise immer wieder spüren ließ.
    Hier war es anders als in den Bergen, wo die Menschen an Hexen gewöhnt waren. Die Bewohner des Kreidelands konnten zwar freundlich sein, aber sie waren keine Freunde, keine echten Freunde. Die Hexe war anders. Die Hexe wusste Dinge, die sonst niemand wusste. Die Hexe war eine andere Sorte Mensch. Die Hexe war jemand, mit dem man sich lieber nicht anlegen sollte. Die Hexe war keine von ihnen.
    Tiffany Weh war die Hexe. Sie war Hexe geworden, weil die Menschen eine Hexe brauchten. Jeder braucht eine Hexe, auch wenn das nicht jeder weiß.
    Und es funktionierte ganz gut. Wann immer Tiffany einer jungen Mutter bei der Geburt des ersten Kindes beistand oder einem Greis den Weg ins Grab ebnete, verblassten in den Köpfen der Menschen die Märchenbuchvorstellungen vom sabbernden, hässlichen alten Weib mit jedem Mal ein bisschen mehr. Trotzdem hatten die alten Geschichten, die alten Gerüchte, die alten Bilder immer noch Macht über das Gedächtnis der Welt.
    Was es für Tiffany schwierig machte, war die Tatsache, dass es im Kreideland traditionell keine Hexen gab. So lange Oma Weh noch gelebt hatte, wäre auch keine auf die Idee gekommen, sich dort niederzulassen. Oma Weh war, wie jeder wusste, eine weise Frau gewesen. So weise sogar, dass
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