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Das Mädchen, die goldene Uhr und der ganze Rest

Das Mädchen, die goldene Uhr und der ganze Rest

Titel: Das Mädchen, die goldene Uhr und der ganze Rest
Autoren: John D. MacDonald
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so groß war wie ein Tennisplatz - und dahinter lag rosig in der Abend- oder Morgendämmerung ein Ozean. Ihre nackten, sonnengebräunten Schultern schimmerten pfirsichfarben, und die schweren blonden Haare leuchteten hell im sanften Licht.
    Atlantik, dachte er. Sobald er wußte, um welchen Ozean es sich handelte, war es einfacher, eine Beziehung zur Zeit herzustellen. Da er von Florida aus auf das Meer blickte, mußte es früher Morgen sein.
    »Sie sind Charla«, sagte er vorsichtig.
    »Natürlich, lieber Kirby.« Sie sprach amüsiert mit gutturaler Stimme und lachte fast dabei. »Ich bin Ihre neue Freundin Charla.«
    Der Mann saß links von Kirby. Er war massiv gebaut, herausstaffiert, geschniegelt und gestriegelt. Er gab einen leisen, belustigten Laut von sich. »Ein spanisches Zeitwort«, sagte er. »Charlar. Plaudern. Ein bedeutungsloses Gespräch führen. Eine Ironie, denn ihre große Begabung liegt im Zuhören, nicht im Reden.«
    »Meine große Begabung, Joseph?« fragte sie mit gespieltem Erstaunen.
    »Deine ungewöhnlichste Begabung, meine Liebe. Aber es hat uns beiden großes Vergnügen bereitet, Kirby zuzuhören.«
    Kirby notierte in Gedanken Stichworte, die ihm als Wegweiser dienten. Charla, Joseph, Atlantik, Morgendämmerung. Er suchte weitere Hinweise. Es könnte Samstag morgen sein. Die Beerdigung hatte am Freitag um elf Uhr stattgefunden und die Besprechung mit den Rechtsanwälten um zwei Uhr nachmittags. Um drei Uhr hatte er zu trinken begonnen.
    Er drehte vorsichtig den Kopf und betrachtete das leere Lokal. Ein Barkeeper im weißen Jackett stand mit verschränkten Armen und gesenktem Kinn unter den in der Morgendämmerung blaß wirkenden Kristalleuchten.
    »Sind diese Lokale die ganze Nacht geöffnet?« fragte Kirby.
    »Selten«, antwortete Joseph. »Aber man reagiert zuvorkommend auf ein kleines Geldgeschenk. Eine freundschaftliche Geste. Zur offiziellen Sperrstunde hatten Sie noch viel zu erzählen, Kirby.«
    Im Lokal war es heller. Sie sahen ihn freundlich an. Sie waren reife, gutaussehende Menschen. Sie waren die zwei großartigsten Menschen, die er je kennengelernt hatte. Beide sprachen mit leichtem Akzent, hatten internationales Flair und behandelten ihn herzlich und liebevoll.
    Plötzlich kam ihm ein schrecklicher Verdacht. »Sind Sie ... sind Sie Journalisten - oder so etwas Ähnliches?«
    Beide lachten laut. »Ach nein, mein Lieber«, antwortete Charla.
    Er schämte sich. »Für Onkel Omar ist - war - schon der bloße Gedanke an jede Art von Publicity entsetzlich. Wir mußten immer sehr vorsichtig sein. Er zahlte einer Firma in New York dreißigtausend Dollar im Jahr, damit er nicht in die Zeitungen kam. Aber die Leute haben immer herumgeschnüffelt. Sie hörten ein winziges Gerücht über Omar Krepps und machten eine große Geschichte daraus; Onkel Omar wurde immer furchtbar wütend darüber.«
    Charla legte ihre Hand mit warmem Druck auf die seine. »Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr, lieber Kirby, nicht wahr?«
    »Wahrscheinlich nicht.«
    »Mein Bruder und ich sind natürlich keine Journalisten, aber Sie könnten mit Journalisten reden. Sie könnten die Welt wissen lassen, wie gemein er zu Ihnen gewesen ist und wie abscheulich er Ihnen die Jahre selbstloser Ergebenheit vergolten hat.«
    Sie war so verständnisvoll, daß Kirby am liebsten geweint hätte. Aber seine unbequeme Ehrlichkeit ließ ihm keine Ruhe. »Ich war nicht ganz selbstlos. Wenn man einen Onkel hat, der fünfzig Millionen Dollar schwer ist, gibt es schon tiefere Beweggründe.«
    »Sie haben uns aber erzählt, daß Sie ihn oft verlassen haben«, warf Joseph ein. Charla zog ihre warme Hand zurück, und Kirby vermißte sie.
    »Ich bin immer wieder zurückgekommen«, gab Kirby zu. »Er hat mir versichert, daß ich sein Lieblingsneffe bin und daß er mich braucht. Wofür? Er hat mich ständig auf Trab gehalten, das war alles. Ich hatte keine Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen. Seit elf Jahren, seit ich das College verlassen habe, schickte er mich mit verrückten Aufträgen durch die ganze Welt. Sogar auf dem College bestimmte er, welche Vorlesungen ich belegen sollte. Der alte Mann bestimmte mein ganzes Leben.«
    »Das haben Sie uns schon erzählt, mein Lieber«, versicherte im Charla mit heiserer Stimme. »Die vielen Jahre, die Sie geopfert haben!«
    »Und dann kein Pfennig!« stellte Joseph hart fest.
    Das helle Licht des Morgens schmerzte Kirby in den Augen. Er gähnte. Als er die Augen öffnete, waren Joseph und
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