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Das Los: Thriller (German Edition)

Das Los: Thriller (German Edition)

Titel: Das Los: Thriller (German Edition)
Autoren: Tibor Rode
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Schlachtfeldern hierher nach Leipzig gekommen, und mit den ersten Anzeichen des Frühlings würde er vermutlich wieder dorthin zurückkehren müssen, um sich im achten Jahr mit den Nachbarstaaten zu bekriegen. Calzabigi betrachtete den Rock des Königs und beugte sich weit nach rechts, um nach einer geflickten Stelle an der Vorderseite zu suchen. In Berlin hatte man ihm erzählt, dass der König eine Kugel abbekommen habe, die in einer Tabakkapsel seiner Manteltasche stecken geblieben war. »Man erkennt das Loch an dem weißen Garn, mit dem es gestopft worden ist, links neben der Knopfleiste«, hatte ihm ein Offizier mitgeteilt, der mit dem König in Bunzelwitz dem Freiherrn von London gegenübergestanden hatte.
    Doch der König wandte Calzabigi fast ausschließlich den Rücken zu, sodass er ihm keinen freien Blick auf diese Seite des Rockes gewährte. Wie er dort vor ihm saß, tief über seine Papiere gebeugt, wirkte der König viel kleiner, als er ihn sich vorgestellt hatte. Fast wie ein Kind. Calzabigi fielen die spitz hervortretenden Schulterblätter auf, die sich unter dem blauen Stoff der Uniform abzeichneten und der Erscheinung des Königs sogar etwas Feminines verliehen. Lediglich die vergilbte Stutzperücke, der man ansah, dass sie in den vergangenen Monaten den Widrigkeiten des Krieges ausgesetzt war, verriet den Mann im knabenhaften Körper. Calzabigi seufzte. Vielleicht hatte der König seine Ankunft gar nicht bemerkt oder, vertieft in seine Korrespondenz, wieder vergessen. Er beschloss, durch ein leises Räuspern auf sich aufmerksam zu machen. Als auch dies ohne Reaktion blieb, räusperte er sich erneut, diesmal lauter.
    »Das klingt nicht gut«, bemerkte der König plötzlich, ohne sich umzudrehen. Er sprach französisch. »Wenn Ihr die Bräune habt, verlasst lieber augenblicklich mein Appartement. Ich habe noch einen Krieg zu Ende zu bringen und kann es mir nicht leisten, vorher zu krepieren.«
    Calzabigi spürte, wie mit der unerwarteten Ansprache des Königs das Blut aus den Beinen zurück in seinen Kopf schoss. »Seid unbesorgt, Sire. Mir geht es gut. Keineswegs war es meine Absicht, Eure Majestät zu stören!«, entschuldigte er sich.
    Der König wandte sich um und bedeutete ihm, näher zu kommen. Im Schein der Öllampe konnte Calzabigi nun erstmals das Gesicht des Königs betrachten, und er fühlte für einen kurzen Moment dieselbe Enttäuschung wie beim ersten Anblick dieses Zimmers. Es gab wenig Pompöses zu entdecken. Er blickte in ein Paar gerötete Augen, die ihn an den traurigen Blick einer Milchkuh erinnerten. Eine spitze Nase, ein kleiner Mund. Die Natur war sparsam mit der Fülle ihrer Möglichkeiten umgegangen, als sie dieses hochwohlgeborene Antlitz erschaffen hatte. Calzabigi versuchte, die geflickte Stelle im Rock zu erkennen, doch dafür war es zu dunkel im Raum. Was er stattdessen sah, waren Reste von Schnupftabak am Kragen und am Halstuch des Königs.
    »Wie ich höre, sprecht Ihr Französisch«, sagte der König. »Das ist gut. Denn meine italienische Ausdrucksweise beschränkt sich auf die Musik, und Deutsch ist keine Sprache.«
    Calzabigi hob erstaunt die Augenbrauen. »Wie könnt Ihr die Sprache tadeln, die Euer Volk spricht, Sire?«
    »Ich tadle sie nicht. Für die alltägliche Konversation ist die deutsche Sprache ausreichend. Um jemanden anzuleiten, maßzuregeln oder kräftig zu beleidigen, ist sie sogar ausgezeichnet. Sobald es aber darum geht, das Schöne auszudrücken, gerät sie an ihre Grenzen. Die deutsche und die französische Sprache zu vergleichen – das ist, als vergleiche man eine Kartoffel mit einer Melonenfrucht.« Der König machte eine kurze Pause und starrte versonnen auf Calzabigis rechte Schulter. »Oh, wie süß mir die Melonen sind«, fügte er sehnsüchtig hinzu, bevor er Calzabigi direkt anschaute.
    »Wusstet Ihr, dass ich in Sanssouci Melonengewächse kultiviert habe?« Calzabigi bemühte sich, dem raschen Themenwechsel des Königs zu folgen.
    »Man schwärmte mir von Eurer Melongarie in höchsten Tönen vor«, entgegnete er und senkte anerkennend den Kopf. Doch in Wirklichkeit hatte er noch nie eine Silbe davon gehört. »Genug von den süßen Dingen«, sagte der König, erhob sich von seinem Platz am Schreibtisch und bewegte sich mit gemächlichen Schritten auf die hintere Wand des Zimmers zu, wo der Sessel stand. »Ich hoffe, Ihr seid mir nicht gram, dass ich Euch ein wenig warten ließ. Ihr habt mich Eurerseits heute lange auf Eure Ankunft warten
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