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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment
Autoren: Philip Kerr
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der Schläger des Colonel danach und gab mir Feuer. In der Zwischenzeit steckte der Colonel den Kopf durch die Tür zum Cockpit und redete mit dem Piloten. Einen Moment später legte sich die Maschine in eine weite Kurve und nahm Kurs auf die Stadt.
    Ich musste unbedingt wissen, ob Anna unter den bemitleidenswerten Menschen gewesen war, die aus dem Flugzeug geworfen worden waren, doch ich konnte den Colonel nicht einfach nach ihr fragen. Solange ich nicht fragte, glaubte er vielleicht, dass es keinen wichtigen Menschen in meinem Leben gab, den er benutzen konnte, um mich unter Druck zu setzen. Wenn ich nach ihr fragte, brachte ich sie in große Gefahr.
    «Wir fliegen zurück nach Ezeira», sagte Colonel Montalban.
    «Ich fühle mich gleich besser», erwiderte ich. «Ich konnte mich noch nie so recht für das Fliegen begeistern.»
    Ich sah mich im Innern der Kabine um. Auf dem Boden war eine große Lache aus Blut und Schlimmerem. Nachdem die Kabinentür geschlossen war, konnte ich auch den Gestank nach Angst riechen, der in der Dakota klebte. Weiter vorn gab es ein paar Sitze. Der Colonel nahm in einem davon Platz. Ich erhob mich vom Boden, ging nach vorn und setzte mich zu ihm. Ich beugte mich über ihn und starrte durch das Fenster nach draußen auf den grauen Fluss unter uns.
    «Die Leute, die Sie gerade ermordet haben», sagte ich. «Ich nehme an, das waren alles Kommunisten?»
    «Einige.»
    «Und die anderen? Es waren Frauen darunter, oder nicht?»
    «Wir leben in einer aufgeklärten Zeit, Gunther. Auch Frauen können Kommunisten sei. Manchmal – nein, nicht manchmal, sondern in der Regel – sind sie viel fanatischer als Männer. Und auch mutiger. Ich frage mich, ob Sie so viel Folter ertragen könnten wie eine der Frauen, die wir gerade über Bord geworfen haben.»
    Ich schwieg.
    «Sie wissen, dass ich Sie jederzeit nach Caseros bringen könnte. Meine Männer würden Sie mit dem elektrischen Viehstock bearbeiten. Sie würden mir sicher alles erzählen, was Sie wissen.»
    «Ich weiß ein wenig mehr über Folter, als Sie denken, Colonel», sagte ich. «Ich weiß beispielsweise, dass ein Mann, der gefoltert wird, weil man viele Dinge von ihm wissen will, diese nach und nach herausrückt, eines nach dem anderen. Aber wenn man einen Mann foltert, der nur eine einzige Sache weiß, dann besteht die Gefahr, dass er sich verschließt und die Folter erträgt. Es wird ein Wettstreit des Willens. Und da ich jetzt weiß, wie wichtig Ihnen die Antwort ist, mache ich es zur letzten Aufgabe meines Lebens, unter der Folter zu schweigen.»
    «Harter Brocken, wie?»
    «Nur, wenn es unbedingt sein muss.»
    «Ich glaube Ihnen. Ich nehme an, das ist einer der Gründe, warum ich Sie mag.»
    «Sie mögen mich. Deswegen wollten Sie mich auch in fünftausend Fuß Höhe aus dem Flugzeug werfen.»
    «Sie glauben doch wohl nicht, dass mir so etwas Spaß macht, oder? Aber es muss getan werden. Wären die Kommunisten an der Macht, würden sie mit uns das Gleiche tun, das kann ich Ihnen versichern.»
    «Das hat Hitler auch immer gesagt.»
    «Und? Hatte er etwa unrecht? Sehen Sie sich nur an, was Stalin gemacht hat.»
    «Es ist Friedhofspolitik, Colonel. Ich muss es wissen. Ich bin gerade erst mit Mühe und Not einem Friedhof namens Deutschland entkommen.»
    Der Colonel seufzte. «Vielleicht haben Sie recht. Aber ich denke immer noch, es ist besser, ohne Prinzipien zu leben, als selbstgerecht zu sein und tot. Das habe ich auf dem Friedhof gelernt. Und noch etwas habe ich gelernt: Wenn mein Vater mir eine goldeneUhr vererbt, dann möchte ich, dass mein Sohn sie nach mir bekommt und nicht irgendein
paisano
mit einer Ausgabe von Marx unter dem Arm, die er nie gelesen hat. Wenn Sie meine Uhr wollen, dann müssen Sie mich vorher umbringen. Oder Sie fliegen aus der Tür. Wir praktizieren in Argentinien eine Umverteilung von Gesundheit, nicht von Reichtum. Wer durch die Gegend läuft und denkt, aller Besitz wäre Diebstahl, findet bald heraus, dass nicht jedes Töten Mord ist. Der letzte Kommunist, den wir hängen, ist der, der unseren Strick geklaut hat.»
    «Ich will niemandem irgendetwas wegnehmen, Colonel. Als ich nach Argentinien kam, wollte ich nichts weiter, als still und unbehelligt leben, erinnern Sie sich? Niemand anderes als Sie selbst hat mich gezwungen, meine Nase in Ihre Angelegenheiten zu stecken. Meinetwegen können sie sich sämtliche südamerikanischen Kommunisten an Ihren Weihnachtsbaum hängen. Und sämtliche Nazis gleich mit.
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