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Das Haus der Tänzerin

Das Haus der Tänzerin

Titel: Das Haus der Tänzerin
Autoren: Kate Lord Brown
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war das berühmte Bild »Der fallende Soldat, Tod eines spanischen Legionisten«. Emma fuhr mit dem Finger über das Gesicht des Soldaten und fragte sich, was er wohl in dem Augenblick gedacht hatte, in dem der Tod ihn erwischte, als er den Abhang hinunterlief. Sie fragte sich, was er im Fallen gesehen hatte. Als sie das Papier berührte, spürte sie etwas darunter. Sie blätterte zur nächsten Seite und entdeckte den kleinsten Umschlag, den Liberty in das Kästchen mit den Briefen gelegt hatte. Ihre Mutter hatte eine Adresse darauf geschrieben: Villa del Valle, La Pobla, Valencia, Spanien. In dem Umschlag befand sich lediglich ein alter Schlüssel. Ich muss Freya fragen, ob sie etwas darüber weiß , dachte sie. Nachdem sie diesen Umschlag geöffnet hatte, hatte Emma die ganze Nacht wach gelegen, mit dem Schlüssel gespielt und sich alles Mögliche ausgemalt. Typisch Mum , dachte sie und erinnerte sich an all die Entdeckungsreisen, auf die Liberty sie als Kind mitgenommen hatte, die Hinweise, die sie für Emma ausgelegt hatte, damit sie versteckte Geschenke fand. Die Jagd, die Vorfreude, das hatte ihr immer mehr Spaß gemacht als das Geschenk selbst. Emma lächelte traurig, als sie den Umschlag wieder in dem Notizbuch verstaute.
    Emma blätterte weiter, entdeckte das melancholische, abgeklärte Gesicht einer Madonna, das Bild einer weiß getünchten Wand, überwachsen mit leuchtenden Bougainvilleen. Die Notizen wurden gegen Ende spärlicher, die Handschrift weniger sicher. Sie spürte, dass Liberty zurückgeblickt hatte, genauso wie nach vorn. Neben einem aufgeklebten Etikett von »Chérie Farouche«, dem Parfum, das Liberty zu Emmas achtzehntem Geburtstag kreiert hatte, hatte sie geschrieben: »Es gibt Düfte, frisch wie Kinderwangen, süß wie Oboen, grün wie frisches Laub – Baudelaire.« Es war immer noch Emmas unverkennbarer Duft. An ihr roch es zunächst wie Regen in einem Garten, frisch und betörend, und wenn dann die grünen Kopfnoten verflogen, dachte Emma an Erde, an das Blumenpflücken im Wald mit ihrer Mutter. Die Herznote, bestehend aus Maiglöckchen und Jasmin, vermischte sich perfekt mit der Basis aus Sandelholz und Moschus. Liberty sagte immer, der Duft sei genau wie sie – schüchtern, aber überraschend stürmisch. In dieser Seite steckte ein Foto von Liberty mit Emma als Baby. Emma blätterte weiter, und eine unerträgliche Sehnsucht packte sie, als sie das schöne, offene Lächeln ihrer Mutter betrachtete. Emma verharrte bei der letzten Zeichnung ihrer Mutter, vom neuen Liberty Temple Parfumflakon. Hastig hatte sie daruntergeschrieben: » Jasmin? Orangenblüte, ja! «
    Dann kamen die quälenden Leerstellen. Die leeren Seiten, die ihre Mutter ihr zum Vollschreiben übrig gelassen hatte. Emma blinzelte, während sie das Goldfiligranmedaillon betastete, das sie um den Hals trug. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Rückkehr nach Hause sie so mitnehmen würde. Monatelang hatte sie sich eingeredet, dass sie damit zurechtkäme, während sie durch endlose Besprechungen schlafwandelte. Länder und Hotelzimmer gingen ihr wie in einem Kaleidoskop durch den Kopf. Instinktiv legte sie die Hand auf die sanfte Schwellung ihres Bauchs. Etwas Wundervolles , dachte sie. Sie holte einen Stift aus der Tasche, strich die erste leere Seite glatt und schrieb: »Spanien.«

3

    Cambridge, September 1936
    Die letzten Stechkähne des Jahres trieben auf dem Fluss Cam an den Docks entlang, im Kielwasser wirbelndes Herbstlaub. Charles steckte den Brief von seiner Schwester Freya in die Brusttasche seines Tweedjacketts und lehnte sich bequem zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
    »Wie geht es ihr?«, fragte der blonde junge Mann im Heck und stieß die Stake kräftig nach unten.
    »Freya? Um ehrlich zu sein, es hört sich grauenhaft an, was in Spanien passiert.«
    »Sollen wir hin oder nicht?«
    Charles dachte an die Ausgabe der Zeitschrift Vu , die er am Vorabend gesehen hatte, an Robert Capas Kriegsaufnahmen. Ein Student aus dem King’s College war im Pub auf einen Stuhl gestiegen, hatte das Magazin in die Luft gereckt und über den Lärm in der Bar hinweg gerufen, dass sich jeder, der recht bei Verstand war, den Internationalen Brigaden anschließen und gegen den Faschismus in Spanien kämpfen musste. Das Foto »Der fallende Soldat« verfolgte Charles, beinahe spürte er die Wucht der Kugel, den dumpfen Aufprall des Körpers auf dem Boden.
    »Charles!«
    »Entschuldige, Hugo. Ich war in
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