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Das Haus der kalten Herzen

Das Haus der kalten Herzen

Titel: Das Haus der kalten Herzen
Autoren: Sarah Singleton
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an den hohen Fenstern und bis zu dem Wandteppich mit dem Hirsch und dem Einhorn. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber sie kam nicht darauf, was es sein könnte. Sie tastete hinter dem Teppich herum, stieß aber nur auf Spinnweben. Verwirrt und niedergeschlagen zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Dort setzte sie sich an den Schreibtisch und schlug ihr Tagebuch auf. Lange Seiten füllte sie mit ihrer Abneigung gegen Galatea, Fragen über ihre Mutter und der Ungewissheit ihr eigenes Alter betreffend. Dann versteckte sie das Buch unter einem Dielenbrett unter ihrem Bett. Der Himmel im Osten war blass, als sie sich auszog. Die Nacht lässt ihren Unterrock blitzen, dachte sie. Dann zog sie die Vorhänge zu und legte sich ins Bett.
    Jemand brüllte etwas. Ein Schrei …
    Mit einem Ruck wachte Mercy auf. Es war wieder Nacht geworden.
    Sie sprang aus dem Bett und lief zur Tür. Wer war das? Die Stimme war so vertraut. Nicht Charity, nein. Jemand anderes …
    Sie öffnete die Tür. Der Geist. Das Mädchen im Flur – sie war aus dem endlosen Versteckspiel ausgebrochen. Jetzt hatte sie Angst, stand still da, starrte auf etwas. Mercy lief schnell zu ihr.
    »Was ist denn?«, sagte sie. Der Geist konnte sie nicht sehen, schien ihr jedoch direkt in die Augen zu schauen. Das Mädchen schrie noch einmal. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte davon, die kleinen Füße berührten kaum den Boden, das Haar wehte hinter ihr her. Mercy folgte ihr eilig. Der Geist nahm den vertrauten Weg, bis zum Wandteppich – dann schien er durch die Wand zu verschwinden. Mercy war ihm dicht auf den Fersen. Sie wollte hinterher – nichts lieber als das. Sie stieß die Hand am Einhorn vorbei … ins Leere. Eine Türöffnung, nun ohne Tür. Mercy ergriff die Gelegenheit beim Schopf und zwängte sich hindurch.
    Eine ganze Weile konnte sie überhaupt nichts sehen. Sie war verschluckt worden. Durchdringende Kälte, der Boden verschwand. Wie lang war der Abstand zwischen einem Herzschlag und dem nächsten? Wie weit floss das Blut zwischen den Hammerschlägen des Herzens? Die Sterne prasselten. Die Nacht entrollte sich …
    Licht!
    Eine Explosion von Sonnenlicht. Mit gnadenloser Wucht schlug es auf sie ein, sodass sie zurücktaumelte.
    Sie stieß gegen Regale, stützte sich daran ab und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Das war sie nicht gewohnt, das helle Tageslicht, die Hitze.
    Langsam stellte Mercy sich darauf ein. Sie lugte durch die Finger, wie der Geist, als er beim Versteckspielen geschummelt hatte. So schmerzhaft grelle Farben. Sie stand in der Bibliothek, nicht weit von den geografischen Abhandlungen und Landkarten. Der Raum war ihr vertraut. Mercy ließ die Hände sinken. Sie starrte ihre Finger an. Das grausame Licht machte sogar das winzigste Haar sichtbar – und das zarte Geflecht ihrer Adern. Die Sonne hatte die Wucht eines Hammers. Mercy konnte nicht direkt auf das Fenster schauen, deshalb schob sie sich langsam an der Wand entlang in Richtung Tür.
    Die Bibliothek sah anders aus. Die Bücher waren neu und farbenfroh, die Dielen gebohnert. Auf dem Tisch lagen aufgeschlagene Bücher, Briefe und Papiere. Der Raum wirkte genutzt, er wirkte lebendig.
    Das hatte sie nicht erwartet, sondern eher einen geheimen Gang, der zu einem Versteck führte, in dem das Geistermädchen auf seine Freundin wartete. Oder wo sie sich letztes Mal, als sie geschrien hatte und weggelaufen war, vor ihrem Verfolger verborgen hatte.
    Mercy öffnete die Tür der Bibliothek und schlich sich hinaus. Sie ging den Korridor entlang und betrachtete die Gesichter ihrer Vorfahren an den Wänden. Das Licht veränderte die Gemälde. Unerwartet ragte ein Spiegel auf, der ihr einen schnellen Blick auf ein fremdes weißes Gesicht unter einem Wust wirrer schwarzer Haare gewährte.
    Dann erreichte Mercy das Kinderzimmer im sonnendurchfluteten Century. Jemand kam aus der Tür. Sie trat zurück und gab den Weg frei.
    Eine große, üppige Frau in einem roten Seidenkleid streifte sie beinahe im Vorübergehen. Sie hatte langes goldenes Haar. Mercy wich zurück, aber die Frau schien sie nicht zu sehen. Doch Mercy nahm den Duft ihres Parfüms wahr, der wie ein Band hinter ihr her wehte. Der Duft nach Gewürzen und Blumen berührte Erinnerungen an vergessene Orte. Mit klopfendem Herzen drückte Mercy sich an die Wand des Korridors. Sie sog noch einmal die Luft ein und versuchte, die letzten verblassenden Spuren des Parfums festzuhalten. War sie es gewesen? War das ihre Mutter,
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