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Das Haus der glücklichen Alten

Das Haus der glücklichen Alten

Titel: Das Haus der glücklichen Alten
Autoren: Valter Hugo Mae
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sich von jedem Gefühl, das es für den nun nicht mehr lebenden Menschen empfunden hat, entleeren. Wir aber denken, sie ist noch da, sie lebt in uns, eine Illusion, die wir erschaffen, damit der Verlust noch demütigender wird, ehe er uns den Gnadenschuss gibt. Es ist unbegreiflich, wie so etwas geschehen kann. Mit dem Tod müsste alles, was mit dem Verstorbenen zu tun hat, herausgerissen werden. Damit die Last für die Lebenden nicht unmenschlich schwer wird. Das ist die Grenze: die Unmenschlichkeit, wenn man verliert, was man nicht verlieren darf. Als sagte man mir, Senhor Silva, wir nehmen Ihnen die Arme und Beine ab, wir nehmen Ihnen die Augen heraus, und Ihre Stimme verlieren Sie auch, die Lunge, die lassen wir Ihnen vielleicht, aber das Herz, das müssen wir Ihnen wegnehmen, so leid es uns tut, Glück ist Ihnen fortan nicht mehr erlaubt. Ich fiel aufs Bett und glaubte dabei, mich stundenlang im freien Fall zu befinden. Gesichter und immer mehr Gesichter tauchten vor mir auf, und ich fiel und fiel, ohne von etwas zu wissen. Als ich mich endlich erhob, war ich Lichtjahre von dem Menschen entfernt, den ich wiedersehen wollte. Und zu lernen, die Tage zu überleben, das war, als müsste ich mich damit abfinden, langsam, brutal langsam zu sterben, im Widerspruch zu allem, was mir weniger grausam erschien. Und wenn sich mein Herz nicht von der Liebe zu Laura entleerte, würde die Natur auch mich augenblicklich vernichten und mir das Elend ersparen, die Sonne zu sehen, die brennt, ohne sich um irgendeine Tragödie zu scheren.
    Man wird als Mensch bitterböse, ganz ohne Zweifel. Man wird böse und wünscht den anderen wenig Gutes, und das Schlechte, das ihnen vielleicht zustößt, ist uns egal oder, um ganz ehrlich zu sein, es tröstet uns sogar, jawohl, als nähme es uns tröstend in den Arm, damit diese Leute nicht strahlen wie die Sonne und uns vor allem nicht ansprechen mit freundlicher Harmlosigkeit, obwohl ihre Zeit doch so knapp ist, und uns zu verstehen geben, wie naiv wir schließlich gewesen sind und dass wir nicht im Geringsten auf den Zusammenbruch von allem vorbereitet waren. Nie bereiten wir uns auf die Wirklichkeit vor. Wir werden furchtbar unsympathische Zeitgenossen, selbst wenn wir mit der Geringschätzung, die wir unablässig nähren, intelligent umgehen. Und gefährlich werden wir nur deshalb nicht, weil Altsein bedeutet, verletzbar zu sein und alles andere als tapfer, daher auch der Sprung in der Schüssel, den wir haben, wir sind nur noch knochenlose Monster in unnützen Hautsäcken und können uns selbst beim kleinsten Schlagabtausch nicht mehr auf den Beinen halten. Wo es doch so nötig wäre, mit allen und jedem abzurechnen, damit wir uns rächen an der Welt, weil es weiterhin Frühling gibt und die plötzlich blödsinnige Artenvielfalt und das wogende Meer und das Warten auf warmes Wetter und die Weite der Felder und die verdammten blühenden Blumen und Bäume, in denen die Vögel singen, den Hals sollte man ihnen umdrehen, damit sie sich nie wieder in unsere tiefen Verletzungen einmischen. Zum Teufel mit ihnen. Zum Teufel mit den verlogenen Sonntagsreden der Leute, die uns ins Gesicht lächeln und dabei denken, so ist das nun mal, sie sind schließlich alt und müssen sterben, der eine früher, der andere später, ist doch alles in Ordnung so. Sie lächeln, geben uns einen Klaps auf die Schulter, behutsam, bei so einem Tattergreis, und dann ab nach Hause und schnell vergessen, was es tagsüber wieder an unangenehmen Eindrücken gegeben hat. Aber wo bleiben wir, die Tattergreise, das Wabbelfleisch, das nur unnötig lange verbittert? Was für ein tiefer Hass in uns gärt. Unglaublich, dass in einer Zeit, die wir schon für verdorrt und unfruchtbar hielten, überhaupt noch etwas neu in uns aufkeimt.
    Als Laura gestorben war, packten sie mich und steckten mich mit zwei Säcken Wäsche und einem Fotoalbum ins Heim. Das haben sie getan. Dann, noch am selben Nachmittag, nahmen sie mir das Album weg, weil sie meinten, ich würde mich damit nur noch mehr in den Schmerz über den Verlust meiner Frau hineinsteigern. Danach, gleichfalls an dem Nachmittag noch, stellten sie mir eine Figur der Heiligen Jungfrau von Fátima ins Zimmer und erzählten mir, mit der Zeit würde ich gläubig werden und beten lernen und so meine Seele retten. Und ein Arzt meinte, irgendwann geben sie alle Ruhe. Ich glaubte, sie erwarteten von mir eine Art Verzweiflungsmotorik, irgendwie Action. So was wie alles Mögliche
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