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Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)

Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Autoren: Ava Bennett
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»Wer sind Sie? Ich erkenne Mischlinge auf den ersten Blick. Sie können mir nichts vormachen. Sie besitzen zwar ein spitzes Näschen, einen relativ schmalen Mund und blaue Augen, aber kann mir mal einer erklären, woher Sie dieses pechschwarze Haar und den dunklen Teint haben? Da stimmt doch was nicht bei der ›nordischen Lady‹ da oben auf ihrem Hügel! Das haben wir immer gewusst!«
    Valerie war wie erstarrt. Dass sie in der feinen Gesellschaft Montego Bays manchmal schief angeguckt wurde, daran hatte sie sich gewöhnt. Dass jemand derart unverfroren über ihre Herkunft spekulierte, war ihr jedoch noch nicht vorgekommen, und sie war nicht gewillt, so mit sich reden zu lassen. Denn das hatte ihr Grandma schon als Kind beigebracht: Kümmere dich nie darum, was die Leute reden. Trage den Kopf hoch, und lass dich niemals in die Niederungen derer ziehen, die andere Menschen verurteilen. Sie sind es nicht wert, dass du dich mit ihnen beschäftigst.
    Diese mahnenden Worte waren Valerie in Fleisch und Blut übergegangen. Als in der Schule einmal ein Mädchen mit dem Finger auf sie gezeigt hatte, war sie wie eine Furie auf es losgegangen. Die Lehrerin hatte sie daraufhin bestraft, aber bei ihren Mitschülerinnen hatte sie sich einen höllischen Respekt verschafft. Alle wollten ihre Freundin sein. Und so war es geblieben. Valerie war immer ein beliebtes Kind gewesen und inzwischen zu einer begehrten Partie geworden.
    Deshalb musste Valerie angesichts von Misses Fullers unverschämtem Verhalten auch nicht lange überlegen. Sie sprang von dem unbequemen Sofa auf und scherte sich nicht darum, dass sie dabei versehentlich ihre Tasse umwarf und der Tee sich über die blütenweiße Tischdecke ergoss.
    »Auf Wiedersehen, Misses Fuller«, zischte sie, während sie hocherhobenen Hauptes zur Garderobe eilte, wo ihr der schwarze Butler stumm das Reitcape reichte.
    Draußen vor der Tür wäre sie fast mit James zusammengestoßen. Er sah sie wie einen Geist an. »Miss Sullivan? Was ist geschehen? Wo wollen Sie hin?«
    »Nach Hause! Ihre Frau Mutter hat sich in Spekulationen über mein Haar und meine Hautfarbe ergangen. Ich bin doch kein Stück Vieh!«
    »Aber, Miss Sullivan, das hat sie bestimmt nicht so gemeint. Wissen Sie, Sie müssen das verstehen. Mutter kommt aus einer Familie, in der, ja, dort hat man bis zuletzt Sklaven gehalten, Großvater war ein Mann mit Prinzipien. Er war stolz darauf, niemals eine seiner Sklavinnen angerührt zu haben. Er verachtete die Zuckerbarone, die sich an den Schwarzen vergingen, denn er hasste es, wenn sich das Blut vermischte …«
    Valerie wandte sich daraufhin wortlos von dem jungen Mann ab und eilte zu den Stallungen. Was er als Entschuldigung vorbrachte, machte das Ganze nur noch schlimmer. Denn noch etwas hatte Grandma ihr beigebracht: Nicht die Hautfarbe eines Menschen war entscheidend für seinen Charakter, sondern seine Herzensbildung. »Und glaube mir, mein Kind«, pflegte sie oft versonnen zu sagen, »ich habe in meinem bewegten Leben schlechte weiße Menschen und gute schwarze Menschen kennengelernt.« Es kostete Valerie jedes Mal große Überwindung, nicht danach zu fragen, warum Grandma immer so einen verträumten Gesichtsausdruck bekam, wenn sie diesen Satz sprach.
    Valerie verspürte auf einmal die unbändige Lust, noch einmal umzudrehen und über den Strand zu galoppieren, aber Grandma erwartete sie zum Essen. Und das gemeinsame Abendessen war im Hause Sullivan ein Muss. Genau wie das Cribbage-Spiel danach. Dieses urenglische Kartenspiel beherrschte Grandma wie eine echte englische Lady. Valerie bedauerte zunehmend, dass Grandma diese Passion nicht mit anderen Damen ihres Alters teilte. Denn was wäre, wenn sie, Valerie, eines Tages heiraten und Grandma verlassen würde? Dann hätte die arme Frau keinen Menschen mehr, mit dem sie sich vergnügen konnte. Diese Vorstellung machte Valerie schwer zu schaffen. Und sosehr sie sich danach sehnte, am Strand entlangzupreschen, sie ritt nun langsamer, damit Grandma nicht allein beim Blick aus dem Fenster einen Herzschlag erlitt. Wie so oft wartete die alte Dame bestimmt bereits ungeduldig in der ersten Etage des prächtigen Herrenhauses und verschwand erst im allerletzten Moment, um ihr Verhalten vor Valerie zu verbergen. Dabei wusste Valerie schon seit ihrer Kindheit, dass Grandma jedes Mal am Fenster stand, wenn sie die Rückkehr ihrer Enkelin erwartete.
    Valerie stieß einen tiefen Seufzer aus und zwang sich, keinen flüchtigen Blick
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