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Das Glück von Brins Fünf

Das Glück von Brins Fünf

Titel: Das Glück von Brins Fünf
Autoren: Cherry Wilder
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älteste Kind unserer Familie. Als das Glück eintraf, war ich zwölf, und wir lebten hoch auf den Hängen des Hingstull-Berges, nahe dem Warmen See. Es war ein strenger Winter: Unsere Finger waren steif vor Kälte, wenn wir an den Webstühlen arbeiteten, und Schnee lastete auf unserem Haus. Ein Schneesturm hatte Familien von Spinnern von unseren Hausbäumen weggerissen und sie wie tote Vögel die Bergflanke hinuntergerollt.
    Die Nahrung war karg. Zwei Familien hatten die Scholle verlassen, und nur zwei waren noch da. Jäger Geer, der sich mancher dicken Beute rühmte und dazu, wie wir sagten, eines Dickschädels und eines dicken Fells, hielt sich unter einer Felswand jenseits der Scholle auf und beobachtete, wie wir beim Osttor vor Kälte umkamen.
    Wir konnten den Berg nicht hinabsteigen, denn unser Glück lag im Sterben. Erst sangen wir. Die Alte Gwin braute Kräuter, nachdem sie sie unter dem Schnee herausgekratzt hatte. Die liebevolle Brin umarmte uns alle, aber es hatte keinen Sinn. Mamor und Harfner Roy redeten die ganze Nacht miteinander, aber sie konnten keine Lösung finden. Unsere Familie, Brins Fünf, die Fünf von Brin – und es war eine vollkommene Fünf, fünf Erwachsene ohne Ausfälle – war verdammt. Schiefauge lag in seinem Schlafsack und spann noch mit seiner Traumstimme Garn, sein Gesicht schon vom Tode gezeichnet.
    Ich erinnere mich, daß Narneen nachts im Schlafsack weinte, weil der Frühling nicht käme, wenn unser Glück stürbe. Mir schien das absolut möglich zu sein. Nichts Gutes würde je wieder geschehen: Die Sonnen würden nicht mehr aufgehen, der Frühling würde nicht kommen, unsere Gewebe würden zerreißen und unser jüngstes, noch verstecktes Kind würde nie in Erscheinung treten. In der Stadt leben die Leute, wie ich inzwischen beobachtet habe, anders und haben keine Familie, kein Glück, das sie verbindet, und sie überstehen es sehr gut, aber als Bergbewohner folgten wir den alten Fäden.
    Wir gaben nicht so leicht auf. Täglich fochten wir gegen unsere Verdammnis, indem wir ein neues Glück suchten. Manchmal ging Brin bis hin zum See, allein oder mit Mamor. Harfner Roy ging in die Nacht hinaus, und wir hörten ihn gegen den Sturm ansingen und für unsere Befreiung harfen. Wenn der Wind sich legte, schickten sie Narneen und mich zum Seeufer, mit dem Auftrag, Kreise zu drehen, zu beten, zu rufen, Neuigkeiten von irgendeinem vorbeikommenden Fremden zurückzubringen.
    Es ist merkwürdig, im Winter am Warmen See zu stehen. Dampfwolken steigen von der Oberfläche in die Frostluft auf, und wo der kalte Nebel vom Paß auf den Dampf stößt, formen sie Spiralen. Ich erinnere mich, wie ich einmal Hand in Hand mit Narneen dastand und das Wasser spielerisch über unsere erfrorenen Füße plätschern ließ. Wir sahen zwei Gestalten, die von einem Felsen aus beobachteten, Jäger Geer und Weißflügel. Der eine, dem das Haar in der Farbe getrockneten Blutes über die Wolfsfelltunika hing, wild und gerötet. Der andere noch beängstigender, riesiggroß, dürr und weiß wie Schnee, denn Weißflügel war ein Albino. Weißflügel war das Glück der Fünf von Jäger Geer … weißhaarig, blutlos, schon beim ersten Auftritt.
    Von dort aus, wo wir am See standen, konnten wir nicht sehen, daß diese rosa Augen uns übelwollend anblickten. Ich bückte mich, packte einen warmen Kieselstein und rollte ihn dann in Schnee ein. Ich warf ihn auf Weißflügel dort oben auf dem Felsen und schrie, da er sein Ziel nicht erreichte: „Wir werden unser Glück wiederfinden!“
    Weißflügel lachte laut, ein schrilles, zackiges Gelächter, das vom fernsten Ufer widerhallte.
    Zwei Tage später aßen wir den letzten der konservierten Wildvögel; es blieb uns nichts anderes mehr als Schwarzbrot und getrocknete Sonnenkerne. Ein Schneesturm wehte, und Mamor konnte nicht jagen gehen. Schiefauge sprach nicht, und wir spürten mit Sicherheit, daß unser Glück im Sterben lag; aber plötzlich, gegen Mittag, wurde sein Verstand klar. Schiefauge sprach mit jedem von uns der Reihe nach und betete für das versteckte Kind. Ich fühlte mich betrübt und seltsam, als ich an der Reihe war. Schiefauge hatte ein scharf geschnittenes Gesicht; eines seiner Augen war grün, das andere braun. Er war klein und mißgestaltet, aber so lange ich mich erinnern konnte, war er so beweglich gewesen, daß ich ihn nicht für alt zu halten vermochte. Er war ein gutes Glück, denn das hatte er als seine Berufung empfunden. Er war ein „Glück aus
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