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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis
Autoren: Laura Joh Rowland
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Wände. Runde Holzwannen standen in den Badekammern. Der Flur war menschenleer, doch hinter den Wänden, die aus mit Papier bespannten Holzgittern bestanden, bewegten sich die zahllosen schattenhaften Gestalten der Konkubinen und Dienerinnen. Mit leisem Knarren wurden Türen einen Spalt weit aufgeschoben, und verängstigte Augen spähten auf den Gang hinaus, als Sano und Hirata vorübergingen. Irgendwo spielte eine Samisen eine melancholische Melodie. Überall murmelten aufgeregte weibliche Stimmen. Die Luft wurde wärmer und roch anders als irgendwo sonst im Palast: schwer und süß nach Duftwassern und aromatischen Salben. Sano glaubte sogar, feinere Gerüche wahrnehmen zu können: den Duft der Frauen, den Geruch ihres Schweißes und ihrer Körpersekrete … und den Geruch von Blut?
    Sano hatte Gerüchte über geheime Machenschaften und Intrigen gehört, die in diesen Gemächern gesponnen wurden, von Ausschweifungen aller Art und von sexuellen Perversionen. Wie sollte er in dieser geheimnisvollen, abgeschlossenen Welt, diesem privaten Heiligtum des Shôguns, nur mit Hilfe praktischer Erfahrung den mysteriösen Tod einer jungen Frau aufklären, die an einer rätselhaften Krankheit gestorben war? Er warf Hirata einen raschen Blick zu.
    Auf dem breiten, jungenhaften Gesicht seines Gefolgsmanns lag ein Ausdruck von Unruhe, in die sich Entschlossenheit mischte. Vor Anspannung hatte er die Schultern hochgezogen und setzte mit übertriebener Vorsicht einen Fuß vor den anderen, als wäre er ängstlich darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu verursachen. Trotz seines eigenen Unbehagens – schließlich bewegten sie beide sich hier auf unbekanntem Gebiet – musste Sano lächeln.
    Sano war der Sohn eines rônin, eines herrenlosen Samurai, und hatte sich seinen Lebensunterhalt einst an der väterlichen Akademie für Waffenkunst verdient, an der er jugendliche Schüler im Schwertkampf unterrichtet hatte; in seiner Freizeit hatte Sano Geschichte studiert. Dank der Verbindungen seines Vaters zu einflussreichen Männern hatte er eine Anstellung als höherer Polizeioffizier bekommen; nachdem er seinen ersten Mordfall gelöst und dem Shôgun dabei das Leben gerettet hatte, war Sano in seinen jetzigen Rang als sôsakan aufgestiegen und mittlerweile oberster Sonderermittler einer speziellen Polizeitruppe in Edo.
    Der Vater des 21jährigen Hirata war doshin gewesen, ein rangniedriger Streifenpolizist. Im Alter von 15 Jahren hatte Hirata dieses Amt von seinem Vater geerbt und die Ordnung in den Straßen seines Bezirks mit harter Hand aufrechterhalten, bis er anderthalb Jahre zuvor zu Sanos oberstem Gefolgsmann aufgestiegen war, als sie gemeinsam den berüchtigten Bundori-Mörder gefasst hatten. Was ihre bisherigen Erfahrungen anging, bewegten beide sich auf Neuland, was die Nachforschungen über den Tod einer Frau wie Konkubine Harume betraf.
    »Was sollen wir als Erstes tun?«, fragte Hirata, dessen vorsichtiger Tonfall Sanos eigenes Unbehagen spiegelte.
    »Wir müssen jemanden finden, der uns zeigt, wo Konkubine Harume gestorben ist.«
    Was sich jedoch als überflüssig erwies: Stimmengewirr, Gesang, klagende Musik und schattenhafte, sich bewegende Gestalten lockten Sano und Hirata tiefer in das halbdunkle Labyrinth aus Gängen und Gemächern, hinter deren verschlossenen Türen das Flüstern und Schluchzen zahlloser Frauen bis auf den Flur drangen. Ärzte in ihren blauen Umhängen, die Arzttaschen unter den Armen, eilten an den beiden Polizisten vorüber, gefolgt von Dienern, die Tabletts mit Kräutern und Heiltees trugen. Die Stimmen, die Gesänge, das Rascheln von Papier, das Klingeln von Glöckchen und der dumpfe Klang von Trommeln wurden immer lauter. Sano und Hirata stieg der schwere, süße Duft von Weihrauch in die Nase; die blauen Schwaden wogten träge in der warmen Luft. Kurz darauf hatten die beiden Männer die Quelle der Gerüche und Geräusche erreicht, eine kleine Kammer am Ende eines Ganges. Sie traten ein.
    In Innern läuteten fünf buddhistische Priester kleine Messingglöckchen, sprachen Gebete, schlugen Trommeln und schwangen Stöcke, an denen flatternde Papierstreifen befestigt waren, um die Dämonen der Krankheit zu vertreiben. Hausmädchen streuten Salz auf das Fensterbrett, in die Ecken des Zimmers und entlang der Wände; auf diese Weise errichteten sie eine magische Barriere, die vom Pesthauch des Todes nicht überwunden werden konnte. Die weiblichen Palastbeamten – Frauen mittleren Alters, in die
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