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Das Geheimnis des Feuers

Das Geheimnis des Feuers

Titel: Das Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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wahrscheinlich gar nicht merken, wenn eins fehlte. José-Maria dachte bestimmt nicht daran, seine Laken zu zählen. Er hatte so viel anderes im Kopf. Sofia schlug die Augen in der Dunkelheit auf. Was dachte sie denn da? Dass sie ein Laken stehlen wollte? Würde sie aus gestohlenem Stoff ein Kleid nähen? Wollte sie, dass Maria ein Kleid trug, das gestohlen war? Sie krümmte sich in der Dunkelheit zusammen. Ihre Gedanken machten ihr Angst. Ich kann keins von José-Marias Laken stehlen, dachte sie. Es musste noch eine andere Möglichkeit geben. Aber Sofia fand keinen anderen Ausweg. Und morgens, als sie mit Maria zu den Äckern ging, konnte sie in der Ferne die weißen Laken im schwachen Morgenwind vor José-Marias Haus flattern sehen. Noch ein Mondumlauf verging.
    Als wieder Vollmond war, fühlte Sofia, dass sie nicht länger warten konnte. Eines Nachts, als alle schliefen, stand sie vorsichtig auf, schob die Bastmatte beiseite, die vor der Türöffnung hing, und verschwand in der Dunkelheit. Sie hielt den Atem an und lauschte. Alles war sehr still. Irgendwo raschelte eine Ratte. In einer Hütte wimmerte ein Kind im Schlaf. Dann kroch die Angst heran. Was würde geschehen, wenn sie jemand sah? Ich geh wieder schlafen, dachte sie. Ich kann es nicht tun. Selbst wenn ich mir das Laken nur ausleihe. Es wird immer José-Marias Laken sein, auch wenn es Marias Kleid ist. Gleichzeitig wusste sie, dass das Versprechen, das sie Maria gegeben hatte, wichtiger war. Sie begann durch die Dunkelheit zu laufen, vorbei an den dunklen Hütten, vorbei an der schwachen Glut, die immer noch in vielen Feuerstellen leuchtete. Dort hingen die Laken. Sie waren wie weiße unruhige Geister im Mondlicht. Sie blieb stehen und lauschte. Ich wage es nicht, dachte sie, ich wage es nicht. Dann schlich sie hastig zur Wäscheleine, nahm ein Laken ab, schob zwei andere zusammen, sodass die Lücke nicht auffiel, und lief davon.
    Plötzlich schienen alle Menschen im Dorf wach zu sein. Ihr war, als ob sie durch die Stäbe der Hütten spähten. Die Menschen sahen sie, Sofia, Lydias Tochter, Marias Schwester, die Diebin, die eins von José-Marias Laken gestohlen hatte. Erst bei ihrer Hütte blieb sie stehen. Sie musste sich vorbeugen um Luft zu bekommen. Bei der Feuerstelle, die aus alten Eisenringen und einigen gerissenen Zementblöcken gebaut war, stand ein Baum mit einem Loch. Dort hinein stopfte sie das Laken und verschloss das Loch mit Erde. Dann zog sie vorsichtig die Bastmatte beiseite und legte sich hin.
    »Was tust du?«, fragte Maria plötzlich.
    Sofia meinte, ihr Herz würde stehen bleiben. War Maria die ganze Zeit, während sie fort war, wach gewesen?
    »Ich musste nur mal«, antwortete sie. Aber Maria war schon wieder eingeschlafen.
    Sofia lag wach, bis die Dämmerung kam. Mehrere Male war sie kurz davor, loszulaufen und das Laken auf die Wäscheleine zurückzuhängen. Aber als die Dämmerung kam und Lydia die Hütte verließ, war das Laken immer noch im Baum. Sofia wartete, bis Lydia fort war, dann ging sie rasch hinaus, bevor Maria wach wurde, und wickelte sich das Laken um den Körper unter die Capulana, die sie trug.
    Einige Wochen später hatten sie Schulferien. José-Maria hatte sich nicht darüber beklagt, dass ihm ein Laken abhanden gekommen war. Sofia hatte jedes Mal Angst, wenn sie ihm begegnete. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und sie war traurig, weil sie das Laken gestohlen hatte. Es wird immer sein Laken bleiben, sagte sie sich. Selbst wenn es ein Kleid wird, das Maria trägt.
    Als sie Totio das Laken brachte, fürchtete sie, er würde sie ausfragen, wie sie darangekommen war. Aber er sagte nichts, untersuchte es nur und nickte zufrieden. »Ich habe kein Garn«, sagte Sofia. »Das bekommst du von mir«, sagte Totio. Der Stoff war das Wichtigste.
    In dieser Woche nähte Sofia mit Totios Hilfe ein Kleid für Maria. Sofia durfte die Maschine nicht treten, aber Totio sagte, sie würde bestimmt nähen lernen.
    »Ich habe mit Xio gesprochen«, sagte Totio und nickte zur Nähmaschine. »Er meint, ihr beide würdet euch eines Tages vertragen.«
    »Ist die Nähmaschine ein Er?«, fragte Sofia.
    »Das glaube ich«, antwortete Totio erstaunt. Er schien noch nie darüber nachgedacht zu haben, ob die Nähmaschine nicht eine Sie sein könnte. »Er hat jedenfalls nicht gegen seinen Namen protestiert«, sagte Totio. »Und Xio ist kein Name für eine Frau.«
    Als Maria wissen wollte, was Sofia nachmittags trieb, sagte sie nur, es sei ein
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