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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Autoren: Andrés Pascual
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Maestro seine wahre Identität zu enthüllen.
    »Ich dachte eigentlich, Jean-Claude wäre hier bei Euch«, sagte Matthieu, beugte sich über die Brüstung und ließ den Blick über die Kirchenbänke wandern, um dort unten seinen Bruder ausfindig zu machen.
    »Er war auch hier, ist aber sofort wieder verschwunden«, erklärte Charpentier betrübt. »Ich hätte ihn beim Verfassen dieser Messe gerne an meiner Seite gehabt. Ich bitte euch bei einigen Wendungen gerne um eure Meinung, ich bin immer stolz, wenn ich sehe, wie viel ihr gelernt habt. Aber Jean-Claude wendet sich von mir ab, genau wie du. Ihr seid schon ein undankbares Pack!«
    »Ich weiß, dass Ihr nicht meint, was Ihr da sagt.«
    »Natürlich nicht!«, explodierte der Komponist. »Und noch viel weniger, wenn es um deinen Bruder geht! Dieser befolgt wenigstens meinen Rat und geht seinen musikalischen Bestrebungen weitab vom Hofe nach. Er würde sich niemals in dieser verfluchten Schule von Lully einschreiben.«
    »Was steckt denn nur hinter Eurer Wut? Eines Tages müsst Ihr mir das wirklich erklären.«
    Charpentier schluckte und wandte den Blick ab.
    »Es empört mich, dass ich dir so viel über Musik beigebracht habe, es mir aber nicht gelungen ist, dir die grundlegendsten Dinge zu vermitteln. Wie werde ich mein Können in Zukunft nutzen? Indem ich schnulzige Lieder komponiere, mit denen König Louis seine neueste Angebetete verführen kann?«
    »Hat Jean-Claude erwähnt, wohin er geht?«, ignorierte Matthieu die Entrüstung seines Onkels. »Ich dachte eigentlich, er wollte mich sehen …«
    »Er hat dir diesen Zettel dagelassen.«
    Charpentier zeigte ein wenig abfällig auf eine kleine Ablage neben den Tasten der Orgel. Matthieu faltete das Stück Papier langsam auseinander, als ahnte er schon, dass er mit einer Überraschung zu rechnen hatte.
    »Er wartet in der Schankstube am Neumarkt auf mich. Was zum Teufel hat er denn da zu suchen?«
    Der Organist antwortete nicht. Er hatte keine Lust, sich weiter mit seinem Neffen zu unterhalten. Seit einiger Zeit waren Gespräche zwischen ihnen immer gleichbedeutend mit Streit. Wenn er sah, was aus dem jungen Mann wurde, bekam er kaum mehr Luft, und dieses Gefühl ließ erst dann wieder nach, wenn er ihn spielen hörte. Das honigsüße Leben in Versailles hatte Matthieu mit seinem wirren Luxus, all den Perlen und der goldbestickten Seide völlig geblendet; aber andererseits war er auch fähig, seiner Geige wahre Klagelaute zu entlocken, Seufzer der Lust und Schreie des Glücks, er konnte sie zu einem Gegenstand machen, der kalt war wie Eis, oder die Zuhörer glauben lassen, dass das Instrument jeden Moment in Flammen aufgehen würde. Charpentier stritt sich mit Matthieu, weil er ihn liebte. Er war sein Zögling, sein Nachfolger, in den er die Essenz seines Schaffens gegossen hatte.
    Der Maestro wandte sich der Partitur zu, sinnierte einen Moment und schrieb schließlich dieselbe Triole, die er zuvor gestrichen hatte, wieder aufs Notenblatt, verlieh ihr dabei aber eine gewagte Harmonie. Er fügte noch eine Pause hinzu, ließ dann die Zeichenkohle einige Sekunden lang über dem Papier verharren und malte schließlich liebevoll die Rundung des Grundtons.
    »Jetzt habe ich endlich einen Schluss!«, gratulierte er sich selbst. »Jetzt endlich. Jetzt … end … lich!«
    Er las noch einmal, was er notiert hatte, schloss die Augen, atmete tief durch und spielte sieben Tasten der Orgel an, die einen ohrenbetäubenden Akkord zum Klingen brachten.
    Und dann verwandelte sich die Saint-Louis-Kirche in eine Vorhalle des Göttlichen. Einen magischen Augenblick lang verspürten die beiden sogar, wie ein Engelschor über ihren Köpfen schwebte.

4
    M atthieu trat durch die Kirchentür nach draußen, lief die Treppe hinunter und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal. Er wollte unbedingt wissen, was für wichtige Neuigkeiten ihm Jean-Claude denn zu erzählen hatte. Wie er bereits seiner höfischen Geliebten verraten hatte, fand er das Benehmen seines Bruders in letzter Zeit merkwürdig, und das schien nicht an seinen üblichen kopflosen Romanzen zu liegen. Er wollte hinten um die Kirche herumgehen; als er um die Ecke trat, hätte er jedoch beinahe Nathalie über den Haufen gerannt, das blinde junge Mädchen, das Virginie beim Abschied erwähnt hatte. Sie traf gerade in Begleitung ihrer Gesellschafterin ein.
    »Nathalie …«
    »Matthieu, bist du es?«
    Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Er griff danach und führte die
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