Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Autoren: Andrés Pascual
Vom Netzwerk:
Oper.«
    »Wenn du erst ihr König bist, dann wirst du mir den Kopf abschlagen lassen, noch bevor ich die Arie zu Ende singe«, erwiderte sie und fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals.
    »Ich muss gehen«, sagte er und beendete damit die Unterhaltung, während er sich den Rock überstreifte.
    »Triffst du dich schon wieder mit diesem jungen Ding?«
    »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Als ich vor ein paar Wochen bei meiner Schneiderin in der Stadt war, habe ich gesehen, wie du Nathalie zu ihrer Kutsche begleitet hast – die blinde Nichte von André Le Nôtre, dem Landschaftsgärtner des Königs.«
    »Das war bestimmt eine Verwechslung …«
    »Willst du mich beleidigen? Wie schön dieses Mädchen ist, es bewegt sich wie ein Nymphe. Eigentlich kaum zu glauben, dass Nathalie nichts sehen kann.«
    »Lass es gut sein.«
    »Wahrscheinlich hast du ihr zuckersüße Träume von einem gemeinsamen Leben im Palast ihres Onkels in den Tuilerien eingeflüstert«, fuhr die Sängerin spöttisch fort.
    »Ich bin mit Jean-Claude verabredet«, gab Matthieu schließlich zu.
    »Ach, es geht also um deinen heißgeliebten Bruder! Was ist denn nun mit ihm los?«
    »Ich weiß auch nicht so genau«, antwortete Matthieu und sah ihr in die Augen. Plötzlich kam zwischen ihnen so etwas wie Vertrautheit auf. »Vielleicht hat er sich mal wieder verliebt …« Er lachte kurz auf, um sich wieder in den Griff zu bekommen. »Nein, sicher nicht. In letzter Zeit hat er andere Dinge im Kopf.«
    »Na, wenn du ihn schon nicht verstehst …«, murmelte Virginie leicht verstimmt.
    »Dass wir unter einem Dach wohnen und zusammen Geige spielen, heißt nicht, dass wir auch im Gleichtakt denken«, gab er zurück.
    Noch während er diese Worte aussprach, verspürte er einen Stich in seinem Inneren. Jean-Claude war für ihn viel mehr als nur ein Bruder. Sie hatten jeden Augenblick ihres Daseins gemeinsam durchlebt, denn für beide war die Existenz auf Erden nur eine noch leere Partitur, die sie begierig mit Noten und Pausen zu füllen gedachten.
    »Hast du es wirklich so eilig? Wo trefft ihr euch denn?«
    Die Antwort lag Matthieu schon auf der Zunge, und er war drauf und dran gewesen, ihr zu verraten, dass sie an der Saint-Louis-Kirche verabredet waren. Ein unverzeihlicher Fehler. Scharfsinnig, wie sie war, hätte sie diesen Ort sofort mit Maestro Charpentier in Verbindung gebracht, schließlich war es allgemein bekannt, dass dieser morgens die mächtige Orgel des Gotteshauses benutzte, um dort in Ruhe seine Messen zu komponieren. Und wenn Matthieu schon seinen Musiklehrern nicht enthüllen durfte, dass er mit dem verstoßenen Maestro verwandt war, dann noch viel weniger seiner höfischen Geliebten. Es war bereits heikel genug, dass Virginie überhaupt von Jean-Claude wusste. Aber sie hatte Matthieu und ihn gemeinsam auf einem Maskenball kennengelernt, bei dem die beiden Brüder mit solcher Dreistigkeit und Arroganz einfach zur Tür hereinspaziert waren, dass die Wachen es nicht einmal für nötig gehalten hatten, ihre Namen auf der Gästeliste zu suchen.
    »Ich verschwinde«, sagte der Geiger schließlich.
    In diesem Moment waren im Haus Geräusche zu vernehmen.
    »Das würde ich dir auch raten«, bemerkte die Sängerin.
    »Ist das dein Mann?«
    Matthieu stellte sich den Offizier mit der Narbe vor, wie er sein Schwert ablegte, den Rock abstreifte und sich auf den Weg ins Schlafzimmer machte. Es wunderte ihn, dass Virginie ruhig Blut bewahrte, denn er wusste, dass Gilbert – den man nicht umsonst »den Verrückten« nannte – ihnen beiden die Kehle durchschneiden würde, wenn er sie hier gemeinsam überraschte. Die Sopranistin wollte mit ihrer Haltung wohl seine Kaltblütigkeit auf die Probe stellen, also unterdrückte er den instinktiven Drang, sich so schnell wie möglich davonzumachen, und ging in aller Seelenruhe auf die Zimmertür zu.
    »Hast du denn gar keine Angst?«, fragte sie heiter, musste aber ein Zittern der Unterlippe unterdrücken.
    Matthieu verließ das Haus durch die Hintertür. Wie so oft zuvor sprang er über die Mauer in den Innenhof des Nachbargebäudes und gelangte durch dessen Stallungen auf die Straße. Der Gestank nach Pferdemist vermischte sich mit dem Aroma gerösteter Mandeln. Er bekam Hunger und sah nach oben, um das Fenster auszumachen, durch das der süße Rauch aufstieg. Dann aber dachte er daran, dass er ohnehin schon zu spät kommen würde, und er machte sich endlich auf den Weg in Richtung Notre-Dame.

3
    B is zur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher