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Das fuenfte Imperium

Titel: Das fuenfte Imperium
Autoren: Viktor Pelewin
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Schlaf.
    Und Brahma hatte die Wahrheit gesagt. Mir träumte meine Vergangenheit - so als hätte sich in meinem Kopf plötzlich ein kleiner gemütlicher Kinosaal aufgetan, in dem nun der Dokumentarfilm meiner Kindheit lief. Komisch, dachte ich noch, dass ich von Kindesbeinen an ausgerechnet vor Vampiren die meiste Angst hatte ...

DIE SONNENSTADT
    Von Geburt an lebte ich allein mit meiner Mutter in Moskau. Wir wohnten im Haus der Gewerkschaft der Theaterschaffenden, nahe der Metrostation Sokol. Das Haus war höchste sowjetische Kategorie: ein hoher Block aus beigem Backstein, geradezu westliches Format. In solchen Häusern ließen sich für gewöhnlich die ZK-Nomenklatura und ausgewählte Schichten der geistigen Elite der Sowjetunion nieder - immer standen irgendwelche schwarzen Wolgas mit Rundumleuchte davor, und auf den Treppenabsätzen lagen massenweise Kippen bester amerikanischer Zigarettenmarken. Mama und ich wohnten in einer kleinen Zweizimmerwohnung, wie sie in Abendländern unter der Bezeichnung one bedroom firmieren.
    In diesem »Bedroom« wuchs ich auf. Tatsächlich hatte der Architekt ihn sich als Schlafzimmer gedacht: ein kleiner Schlauch, winziges Fenster mit Blick auf den Parkplatz. Ich durfte das Zimmer nicht nach meinen Vorstellungen einrichten, Mama suchte das Tapetenmuster aus, entschied, wo das Bett zu stehen hatte und wo der Tisch, wollte sogar bestimmen, was an die Wände kam. Das führte immer wieder zu Streit, einmal bezeichnete ich sie als »kleine Sowjetmacht«, worauf eine ganze Woche lang Funkstille zwischen uns herrschte.
    Etwas Kränkenderes als diese Formulierung hätte man sich für sie auch schwerlich ausdenken können. Meine Mutter, »eine große, dünne Frau mit verhärmtem Gesicht«, wie ein Theaterschriftsteller aus der Nachbarschaft sie einmal dem Abschnittsbevollmächtigten gegenüber beschrieb, hatte früher dissidentischen Kreisen angehört. Im Gedenken daran wurde vor Gästen des Öfteren eine Tonbandkassette abgespielt, auf der der Bariton eines bekannten Systemgegners seine anklagenden Verse vortrug und Mamas Stimme aus dem Hintergrund gewagte Zwischenrufe vom Stapel ließ. Deklamierte der Bariton zum Beispiel:
Steckst du deinen Fünfer rein in den Metroautomat,
    Folgen dir zwei Herren in Grau. Folgen äußerst delikat.
    Stehst du brav im Gastronom, stehst nach Wodka an,
    Sitzen die zwei Herren in Grau hinterm Eisschrank an...
    hörte man Mamas jugendliche Stimme dazwischenrufen: »Trag das vom Arsch mit Ohren vor! Und Solschenizyn!«
    Auch noch deftigere Wörter, die wohlbehütete Kinder in Perestroika-Zeiten ansonsten eher von kichernden Gören auf der Nachbarpritsche des Kindergartenschlafraums beigebracht bekamen, hörte ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal. Wobei Mama nicht müde wurde zu erläutern, die Verwendung obszönen Vokabulars sei in diesem Kontext von künstlerischer Notwendigkeit diktiert und daher gerechtfertigt. Das Wort Kontext war für mich noch rätselhafter als jene anderen; hinter alledem ahnte ich die düstere, geheimnisvolle Erwachsenenwelt, in die mich The Wind of Change , der aus dem Fernseher geweht kam, hineintreiben wollte.
    Die Menschenrechtskassette war etliche Jahre vor meiner Geburt aufgenommen worden; das ließ darauf schließen, dass
    Mama sich infolge Heirat (und die wiederum davon gekrönt, dass ich auf die Welt kam) aus dem aktiven Kampf zurückgezogen hatte. Wobei die mütterliche Nähe zur revolutionären Demokratie, die meine Kindheit mit ihrem Wetterleuchten erhellte, vom Sowjetregime in seiner Schwindsucht wohl gar nicht bemerkt worden war.
    Vom Bett aus gesehen rechts schmückten zwei Bilder die Wand. Sie waren von gleicher Größe (vierzig Zentimeter breit, fünfzig hoch - meine erste Messung, als ich das Lineal in der ABC-Schützen-Grundausrüstung entdeckte). Das eine stellte einen kleinen Zitronenbaum im Kübel dar, das andere einen ebensolchen Apfelsinenbaum. Eigentlich unterschieden sie sich nur in Farbe und Form der Früchte: gelb und länglich die einen, rund und orange die anderen.
    Und direkt über dem Bett hing dieser geflochtene Fächer in Herzform. Er war viel zu groß, um ihn zum Wedeln zu benutzen. In der Einbuchtung zwischen den Herzbuckeln gab es einen runden Griff, weshalb der Fächer einer kleinköpfigen Riesenfledermaus ähnelte. In der Mitte war er rot lackiert.
    Ich glaubte einen blutsaugenden Flughund vor mir zu haben (von so etwas hatte ich in der Zeitschrift Rund um den Erdball gelesen), der tagsüber
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