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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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jeder von ihnen bestens allein zurechtkommt. Ich habe diese weite Strecke durch Europa doch nicht zurückgelegt, um Nina jeden Morgen zur Haltestelle ihres Schulbusses zu bringen, oder? Ich beginne zu ahnen, dass Thomas, dieser geheimnisvolle und sensible Teenager, mir ein wertvoller Verbündeter werden wird. Vielleicht weil er ein Junge ist und ich ein Mädchen, vielleicht, weil er meine Unsicherheit spürt, die ich seit meiner Ankunft zu verbergen suche. Thomas ist spät dran, er startet sein Mofa und verschwindet in der noch dichten Nacht. Er lässt mich mit einem seltsamen Gefühl zurück. Die Augenblicke, die ich in kleinen Ausschnitten erlebe, irritieren und frustrieren mich, bringen mich in Gefahr. Irgendwie kommt nichts in Gang, nichts hält mich, nichts deutet darauf hin, dass bald etwas Gestalt annehmen wird. Alles erscheint reglos und schwerfällig, ohne Strukturen und bleiern, unklar und dem Zufall unterworfen.
     
    Hier erlebe ich das Gegenteil von einem Haus, in dem alles straff organisiert war; die Termine, Gewohnheiten, Mahlzeiten – alles war perfekt aufeinander abgestimmt, minutiös vorbereitet und unter Kontrolle. Die Eltern in ihrer Rolle als Eltern erfüllen ihre Pflichten als Eltern, stehen jeden Morgen bei Tagesanbruch auf, verbergen es, wenn sie schlechte Laune oder sich das Kreuz verrenkt haben, bagatellisieren ihre Enttäuschungen und Sorgen, vertuschen ihre Marotten, reden, wie sie glauben, dass Eltern reden müssen, mit vorgefertigten Floskeln. Ein Haus, in dem alles unveränderlich schien, jede Mahlzeit unweigerlich vierzig Minuten gedauert hat, in dem meine Mutter das Geschirr gespült hat, während eines von uns Kindern den Tisch abwischte und mein Vater im Wohnzimmer verschwand, nachdem er die Weinflasche wieder zugekorkt hatte. Dann gab es noch die sonntäglichen Fahrradausflüge, die Rückfahrt mit Gegenwind und manchmal im Regen, den Rat meiner Mutter, unsere Regenjacken mitzunehmen; die Wasserflasche, die sie winters wie sommers in den kleinen Rucksack steckte, in dem unweigerlich auch Dörrobst für eventuelle Durchhänger war, die Vorsichtsmaßnahmen, Warnungen, Ratschläge aus dem Munde meiner Mutter, die uns vor allem Schlimmen bewahren sollten, Flickzeug für eventuelle Reifenpannen, Aspirin für eventuelle Kopfschmerzen, Arnika für eventuelle Prellungen; Anweisungen, wie wir gesund bleiben würden, wir alle und vor allem mein Vater; die Angst, dass er zu dick wird, seine Arterien verstopfen, seine Nerven nicht mehr mitmachen; die Art, wie sie jede der am heimischen Herd getroffenen Entscheidungen kontrollierte, nichts dem Zufall überließ, nicht einmal die Zeiteinteilung an den Wochenenden, die so gestaltet war, dass innerhalb der beiden Tage die komplette Wohnung geputzt wurde und auch ein Besuch bei den Großeltern möglich war, jeweils gerecht aufgeteilt zwischen denen mütterlicher- und väterlicherseits, jeweils gleich viele Stunden; die Einkäufe, für die sie immer eine detaillierte Liste erstellt hatte; das Leben nach Art meiner Mutter: ein Meisterwerk an Ausgewogenheit zwischen Familie, Sauberkeit, Erziehung und Vergnügen – na ja, Vergnügen im weitesten Sinne. Das wahre Vergnügen meiner Mutter bestand darin, ihre Kinder zu ordentlichen Menschen zu erziehen und für Harmonie und Zusammenhalt in der Familie zu sorgen; ihre größte Angst war, dass wir nichts zu tun haben könnten, keine Pläne, keine zeitliche Abfolge, sondern nur die Zeit totgeschlagen hätten – was, wie jedermann weiß, der Ursprung aller Laster ist, worin sie sich allerdings getäuscht hatte, doch als sie ihren Irrtum einsah, war es schon zu spät. Das war erst, als unsere Familie von fünf Personen auf vier geschrumpft war.
     
    Mein Leben in Frankreich war das genaue Gegenteil von dem, was mich hier erwartet, wo alles spontan zu sein scheint und ad hoc entschieden wird. Man steht zu den unmöglichsten Uhrzeiten auf, ständig läuft der Fernseher, wer gerade Lust hat, geht mit dem Hund Gassi, das Mittagessen nimmt man in der Küche im Stehen zu sich oder geht damit auf sein Zimmer, die Betten der Kinder werden nie gemacht, im Badezimmer herrscht ein irritierendes Chaos, jeder kommt und geht, wie es ihm passt oder nach einer Regel, die ich noch nicht durchschaut habe. Die einzigen Fixpunkte sind der Schulbus, der zu einer ganz bestimmten Uhrzeit abfährt, und Ninas Rückkehr kurz nach dreizehn Uhr. Ich habe das Gefühl, ziellos durch eine Welt zu irren, die ich nicht verstehe, zu der man
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