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Das Eulenhaus

Das Eulenhaus

Titel: Das Eulenhaus
Autoren: Agatha Christie
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die Hand auf die Schulter. »Aber Sie gehören zu den Menschen, die auch mit dem Dolch in der Brust weiterleben – die weitermachen und weiterlächeln – «
    Henrietta sah zu ihm hoch und verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Klingt aber ziemlich pathetisch, was?«
    »Das liegt nur daran, dass ich Ausländer bin und gern große Worte mache.«
    »Sie waren sehr freundlich zu mir«, sagte Henrietta.
    »Und das liegt daran, dass ich Sie von Anfang an bewundert habe.«
    »Was machen wir denn jetzt, Monsieur Poirot? Ich meine, mit Gerda.«
    Poirot zog den Bastsack mit den Handarbeitssachen zu sich und schüttete ihn aus. Er enthielt Flicken aus braunem Wildleder und andere bunte Glattlederstücke. Außerdem ein paar Streifen aus glänzendem und sehr festen braunen Leder. Poirot hielt sie aneinander. »Der Halfter. Ich nehme ihn an mich. Und die arme Mrs Christow – sie wird einfach völlig überfordert gewesen sein, der Tod ihres Mannes war einfach zu viel. Man wird feststellen, dass sie sich in einem Augenblick der Unzurechnungsfähigkeit das Leben nahm…«
    »Und kein Mensch wird je erfahren, was wirklich passiert ist?«, fragte Henrietta vorsichtig.
    »Einer schon, denke ich. Dr. Christows Sohn. Ich denke, er wird eines Tages zu mir kommen und nach der Wahrheit fragen.«
    »Aber Sie sagen sie ihm doch nicht!«, schrie Henrietta auf.
    »Doch. Ich werde sie ihm sagen.«
    »O nein!«
    »Das verstehen Sie nicht. Denn für Sie ist es unerträglich, jemandem wehzutun. Aber für manche Gemüter ist etwas anderes noch unerträglicher – etwas nicht zu wissen. Sie haben doch gehört, was die arme Frau gerade eben noch gesagt hat: ›Terry muss immer alles wissen.‹ Für einen wissenschaftlichen Geist steht Wahrheit über allem anderen. Die Wahrheit kann man, auch wenn sie noch so bitter ist, irgendwann hinnehmen und in sein Lebensmuster weben.«
    Henrietta stand auf. »Möchten Sie, dass ich hier bleibe, oder soll ich lieber gehen?«
    »Ich denke, es ist besser, wenn Sie gehen.«
    Sie nickte und sagte dann, mehr zu sich selbst als zu ihm: »Wo soll ich eigentlich hin? Was soll ich nur machen – ohne John?«
    »Jetzt reden Sie wie Gerda Christow. Sie werden schon wissen, wohin Sie gehen und was Sie machen sollen.«
    »Wirklich? Ich bin so müde, Monsieur Poirot, so müde.«
    »Gehen Sie, mein Kind«, sagte Poirot sanft, »Ihr Platz ist bei den Lebenden. Ich bleibe hier bei der Toten.«

30
     
    A uf der Fahrt zurück nach London gingen Henrietta zwei Sätze wie Echos durch den Kopf: »Was soll ich machen? Wo soll ich denn hin?«
    Sie war die ganzen letzten Wochen wie aufgezogen gewesen, erregt und nicht einen Augenblick lang entspannt. Sie hatte eine Aufgabe zu erledigen gehabt – eine Aufgabe, die John ihr auferlegt hatte. Aber jetzt war sie erledigt – und sie hatte versagt – oder nicht? Man konnte es so oder so sehen. Aber wie man es auch sah, die Aufgabe war erledigt. Und jetzt erlebte Henrietta die entsetzliche Erschöpftheit danach.
    Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Gespräch mit Edward an jenem Abend auf der Terrasse – am Abend nach Johns Tod –, dem Abend, als sie zum Schwimmbecken und in den Pavillon gegangen war und im Schein eines Streichholzes absichtlich Yggdrasil auf den Eisentisch gezeichnet hatte. Ganz geplant und zielgerichtet – noch völlig unfähig, sich einfach hinzusetzen und zu trauern, um den Toten zu trauern. »Dabei möchte ich doch so gern um John trauern«, hatte sie zu Edward gesagt.
    Damals hatte sie nicht gewagt, sich zu entspannen – hatte nicht gewagt, sich vom Kummer überwältigen zu lassen.
    Jetzt konnte sie trauern. Jetzt hatte sie alle Zeit der Welt dafür.
    »John… John«, sagte sie kaum hörbar.
    Bitterkeit und düsterer Aufruhr brachen über sie herein.
    Sie dachte: »Hätte ich doch nur den Tee getrunken.«
    Autofahren tat gut, gab ihr eine Weile Kraft. Aber bald war sie wieder in London. Bald stellte sie den Wagen in die Garage und ging in ihr leeres Atelier. Leer, weil John dort nie wieder saß und mit ihr stritt und böse mit ihr war und sie mehr liebte, als er wollte, und ihr ganz aufgeregt vom Morbus Ridgeway erzählte – von seinen Triumphen und seinen Rückschlägen, von Mrs Crabtree und dem St.-Christopher-Krankenhaus.
    Aber plötzlich kam ihr ein Gedanke, der das dunkle Leichentuch über ihrem Gemüt lüftete: »Ja natürlich. Da will ich hin. Ins St.-Christopher-Krankenhaus.«
     
    Die alte Mrs Crabtree lag in ihrem schmalen Krankenhausbett und
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