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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht
Autoren: Olivier Ameisen
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sagte immer: »Ich möchte, dass du mich siehst, bevor ich mein gutes Aussehen verliere.« Sie sieht heute immer noch genauso gut aus. Sie war seit vielen Jahren nüchtern, als wir uns kennenlernten, trotzdem sagte sie zu mir: »Ich bin Alkoholikerin.« Für mich klang das sehr merkwürdig, und es war mir peinlich, als sie es sagte. Menschen mit Diabetes oder Bluthochdruck stellen sich nicht mit ihren Krankheiten vor. Warum sollten es Menschen tun, die an Alkoholismus leiden?
    Natürlich dachte ich so, weil ich nicht zugeben wollte – weder vor mir selbst noch vor jemand anderem –, dass ich alkoholabhängig sein könnte. Und deshalb hatte ich Angst, zu einem AA-Treffen zu gehen. Aber meine Freundinnen nahmen mich in die Mitte und eskortierten mich von meiner Wohnung in der 63. Straße zu dem großen AA-Zentrum in der Nähe, dem Workshop in der 79. Straße im Keller der St. Monica’s Catholic Church, zwischen der York und der First Avenue. Es war der erste Schritt, mich meiner Krankheit zu stellen, und ich tat ihn widerstrebend. Aber es war ein lebenswichtiger Schritt.
    Es ist schwer für jeden, der ein AA-Treffen besucht, dieVerlegenheit zu überwinden, als Alkoholiker angesehen zu werden. Kurz bevor ich zum ersten Mal zu den Anonymen Alkoholikern ging, redete mein Therapeut mir ermutigend zu. Ich fragte: »Wie ist es mit der Anonymität? Meine Praxis und meine Wohnung liegen ganz in der Nähe. Was ist, wenn ein Patient mich sieht oder sonst jemand, den ich kenne?«
    Er antwortete: »Machen Sie sich keine Sorgen. Alle dort sind Alkoholiker, niemand wird etwas sagen.«
    »Und wenn ein Kollege mich hineingehen oder herauskommen sieht?«
    »Das wird nicht passieren.«
    Es passierte doch. Aber ich sagte zu ihm: »Die Anonymen Alkoholiker sind eine großartige Sache. Waren Sie mal bei einem Treffen?«
    »Nein.«
    »Aber Sie schicken doch Patienten hin. Vielleicht sollten Sie eine Vorstellung haben, wie es dort ist. Wollen Sie mich zu einem offenen Treffen begleiten?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Weil mich jemand sehen könnte.«
    Sucht hat ein moralisches Stigma, und die erwartete Scham hindert die Betroffenen, sich einzugestehen, dass sie ein Problem haben. Sie veranlasst auch Ärzte, eine Abhängigkeit zu spät oder gar nicht zu diagnostizieren. Gerade einmal zwei Monate zuvor hatte ich mit meinem Therapeuten über die AA gesprochen. »Sie sind kein Alkoholiker«, meinte er beschwichtigend, »aber Sie könnten einer werden.« Und dann wechselte er das Thema, weg von Alkohol und Trinken.
    Später in meiner Alkoholikerkarriere, als ich mehr über den Verlauf der Krankheit wusste, fragte ich mich, wie er die frühen Zeichen bei mir übersehen und sogar meine ersten richtiggehenden Hilferufe überhört haben konnte. Auch die Reaktion meiner Ärztekollegen am New York Hospital-Cornell verblüffte mich. Als ich mich vorsichtigerkundigte, was sie »jemandem« mit einem Alkoholproblem raten würden, fragten sie: »Steht die Person dir nahe?«
    Wenn ich verneinte, meinten sie: »Lass die Finger davon. Das ist ein Minenfeld.«
    Wenn ich bejahte: »Nun, ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Das ist sehr kompliziert…«
    Untersuchungen aus jüngster Zeit haben gezeigt, dass Ärzte, sofern sie nicht Spezialisten auf dem Gebiet sind, bei Sucht in der Regel und nicht nur ausnahmsweise eine verspätete oder falsche Diagnose stellen. In einer Studie wurden Arzt-Patienten-Gespräche auf Video aufgenommen. Man sah deutlich, dass die Ärzte dazu neigten, so schnell wie möglich das Thema zu wechseln, wenn die Patienten ein Suchtproblem erwähnten. 1
    Ich konnte mit diesem Phänomen nicht umgehen, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Aber ich ahnte, dass die Ärzte sich bei dem Thema unbehaglich fühlen, weil sie keine verlässliche Behandlung verordnen oder empfehlen können.
    Das Fehlen einer verlässlichen Behandlung erklärt auch die moralischen Etikettierungen von Sucht. Immer, wenn die Medizin eine Krankheit nicht heilen konnte, hat sie dem Patienten die Schuld gegeben, dem es wahlweise an moralischer Stärke, an positivem Denken oder an Willenskraft fehlte. Im 19. Jahrhundert wurde die Tuberkulose, zumindest soweit sie das Establishment betraf, in Romanen und Opern mit Personen von zweifelhafter Moral oder Zurechnungsfähigkeit in Verbindung gebracht. Man denke nur an Fantine, die ledige Mutter, die zur Prostituierten wird, in Victor Hugos Les Misérables; an den geistig verwirrten Revolutionär Kirillow in
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