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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage
Autoren: Dolores Redondo
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Luftzug wehte sie an, als James in die Dusche trat. Sie blieb reglos stehen, das heiße Wasser schien jeden zusammenhängenden Gedanken in den Abfluss zu spülen. James stellte sich hinter sie und küsste sie sacht auf die Schultern. Sie neigte den Kopf zur Seite und bot ihm ihren Nacken dar wie in alten Vampirfilmen, in denen arglose Jungfrauen ihren Hals bis zur Schulter entblößten und in Erwartung eines überirdischen Genusses die Augen verdrehten. James küsste die Stelle sanft und drückte seinen Körper an den ihren, drehte sie zu sich um und suchte ihren Mund. Die Berührung seiner Lippen genügte, um jeden Gedanken, der nicht ihm galt, in den hintersten Winkel ihres Hirns zu verbannen. Erregt streichelte sie seinen Körper, ergötzte sich an der weichen Festigkeit seines Fleisches, ließ sich weiterhin sanft von ihm küssen.
    »Ich liebe dich«, flüsterte James ihr ins Ohr.
    »Ich liebe dich auch«, flüsterte sie zurück und lächelte, weil sie es tief in sich spürte: Sie liebte ihn mehr als alles andere auf dieser Welt. Wenn sie sich geliebt hatten, hielt sich noch stundenlang ein Lächeln auf ihrem Gesicht, als bräuchte es nur einen Moment mit ihm, um alle Übel dieser Welt zu vertreiben.
    Nur wenn sie mit ihm allein war, fühlte sie sich wirklich als Frau. In ihrem Beruf war ihre weibliche Seite zweitrangig, da konzentrierte sie sich vollständig darauf, ihre Aufgaben möglichst gut zu erledigen; aber auch in ihrer Freizeit kam sie sich nicht sehr weiblich vor, wegen ihrer hohen Statur, ihres schlanken, drahtigen Körpers, ihres nüchternen Kleidungsstils. Besonders in Gesellschaft anderer Frauen erging es ihr so, den Gattinnen von James’ Freunden zum Beispiel, die alle kleiner und zierlicher waren als sie und deren schmale, sanfte Hände noch nie eine Leiche berührt hatten. Amaia trug auch nie Schmuck, außer dem Ehering und winzigen Ohrringen, die eher für kleine Mädchen gedacht schienen, wie James einmal bemerkt hatte. Die blonden langen Haare, die sie immer zu einem Pferdeschwanz zusammenband, und ihr spärliches Make-up trugen das Übrige dazu bei, dass sie eher ernst und männlich wirkte, was James an ihr liebte und was sie daher kultivierte. Außerdem wusste Amaia, dass nur ihr bestimmtes Auftreten andere Frauen davon abhielt, boshafte Bemerkungen über ihre Kinderlosigkeit zu machen. Sie litt fürchterlich darunter, dass sie noch keine Mutter war.
    Sie aßen zu Abend, plauderten noch ein wenig und gingen früh ins Bett. Es war ihr unbegreiflich, wie mühelos James die Sorgen des Tages abstreifen und einschlafen konnte, sobald er sich hingelegt hatte. Sie brauchte immer ewig, bis sie sich entspannte. Manchmal las sie stundenlang, bevor sie endlich müde wurde. Außerdem wachte sie bei dem kleinsten Geräusch auf, meist mehrmals pro Nacht. Nachdem man sie zur Inspectora befördert hatte, war sie ein Jahr lang tagsüber derartig angespannt gewesen, dass sie abends vollkommen erschöpft in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken war, nur um zwei oder drei Stunden später mit einem steifen Rücken wieder aufzuwachen, der so schmerzte, dass sie nicht wieder einschlafen konnte. Mit der Zeit hatte die Verspannung nachgelassen, aber sie schlief weiterhin schlecht. Normalerweise ließ sie eine kleine Lampe im Treppenhaus brennen, deren Licht bis ins Schlafzimmer drang, damit sie nachts, wenn sie von quälenden Bildern aus dem Schlaf gerissen wurde, sofort wusste, wo sie war. Vergeblich versuchte sie, sich auf ihr Buch zu konzentrieren. Schließlich gab sie auf und ließ es auf den Boden gleiten, machte das Licht aber noch nicht aus. Sie starrte zur Decke und ging in Gedanken den kommenden Tag durch, an dem der Trauergottesdienst und die Beerdigung von Ainhoa Elizasu stattfinden würden. Bei Verbrechen dieser Art kannte der Mörder meist seine Opfer, ja wohnte oft ganz in deren Nähe und sah sie täglich. Manchmal legte er eine unfassbare Dreistigkeit an den Tag, trieben ihn eine übersteigerte Selbstsicherheit und ein krankhaftes Vergnügen dazu, sich sogar an den Ermittlungen zu beteiligen, an der Suche nach den Vermissten, an Gedenkfeiern; oder eben bei der Beerdigung zu erscheinen, wo er dann Betroffenheit zur Schau stellte. Vorerst durfte sie nichts ausschließen, selbst engste Familienmitglieder kamen als Täter in Frage. Jedenfalls waren der Trauergottesdienst und die Beerdigung ein guter Ansatzpunkt, dort konnte sie Witterung aufnehmen, Reaktionen beobachten, Kommentare aufschnappen.
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