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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind
Autoren: Das andere Kind
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einem
    Pub«, hatte Valerie erklärt, »so weit stimmten seine Angaben noch. Aber dann ging sie allein
    nach Hause, und Tanner fuhr mit seinem Auto ziellos in der Gegend herum. Parkte irgendwo,
    rauchte, dachte nach. Über seine ziemlich beängstigende Zukunft. Er kehrte erst weit nach
    Mitternacht nach Hause zurück. Da er befürchtete, man werde ihm diese Version nicht abnehmen,
    erfand er die Liebesnacht mit Miss Wardin der sicheren Annahme, sie werde mitspielen. Womit er
    sich aber gründlich geirrt hatte.«
    »Er hätte nicht
    so viel lügen sollen. Er hat alles nur schlimme r gemacht.«
    Valerie Almonds Augen waren
    schmal geworden. »Hier hätte so mancher nicht so viel lügen sollen. Denn auch das Unterschlagen
    von wichtigen Fakten fallt in den Bereich der Lüge. Zumindest dann, wenn es innerhalb einer
    Mordermittlung passiert.«
    Leslie hatte sofort gewusst,
    was sie meinte. »Aber Brian Somervilles Schicksal war gar nicht Gwens Motiv, Inspector«, sagte
    sie. »Dieser kleine Junge, dieser später hilflose Mann hat sie kein bisschen gerührt. Sie hat
    in dieser Geschichte nur eine Chance gesehen, ihren eigenen Hass zu befriedigen und dann eine
    völlig falsche Spur zu legen.«
    »Trotzdem hätte ich es wissen
    müssen«, hatte Valerie gesagt und hinzugefügt: »Ihr Schweigen könnte sogar ein juristisches
    Nachspiel für Sie haben, Dr. Cramer. Was genauso natürlich für die Brankleys gilt. Vielleicht
    sogar für Dave Tanner.«
    Leslie hatte nur mit den
    Schultern gezuckt.
    Sie versuchte auch jetzt, den
    Gedanken an die mit Dr Almonds Worten verbundene Drohung abzuschütteln und sich stattdessen auf
    Semira Newtons Wegbeschreibung zu besinnen, die sie sich einzuprägen versucht hatte.
    Den Fluss
    überqueren, links an der St. Hilda Catholic Church vorbei. Rechts der Bahnhof. Dem
    Schild Spital folgen. Sie erreichte den
    Innenhafen. Das deckte sich mit Semiras Angaben. Leslie atmete entspannter. Wenigstens hatte
    sie sich nicht verfahren.
    »Direkt gegenüber dem
    Heim ist ein großer Parkplatz«, hatte Semira gesagt. »Man muss ein Ticket lösen, aber dafür
    haben Sie dann nur ein paar Schritte zu laufen.«
    Sie sah den Parkplatz und
    bog ein. Er war dicht besetzt, aber es gab noch etliche Lücken. Sie hielt an und stieg
    aus.
    Wann war der Wind so kalt
    geworden? Es musste irgendwann über Nacht geschehen sein. Sie fröstelte, zog ihren Mantel enger
    um den Körper. Sie sah sich um.
    Sie dachte, dass die
    Umgebung an einem weniger grauen und wolkigen Tag vielleicht freundlicher aussah. Sie fand den
    Blick auf die Hafenanlagen unschön und deprimierend: Die großen schwarzen Kräne, die
    langgestreckten Lagerhallen, die Schiffe auf den trübgrauen Wellen. Darüber die
    allgegenwärtigen Möwen mit ihren spitzen Schreien.
    Sie wandte sich ab. Dies
    also war Brian Somervilles letzte Station. Die tägliche Aussicht auf diesen Hafen. Ob er ihn
    mochte? Ob er den Schiffen zusah? Ob ihn die Kräne faszinierten? Vielleicht, dachte sie, sieht
    er die Bewegung, das Leben in alldem.
    Sie hoffte es. Ihr selbst
    schnürte die Trostlosigkeit des grauen Tages fast die Luft ab. Gegenüber dem Hafen erhob sich
    der Berg mit der Abtei, allerdings konnte man das gewaltige Gebäude von dieser Stelle aus nicht
    sehen. Unterhalb verlief eine Häuserzeile entlang der Straße. Das Captain-Cook-Museum. Ein
    Friseurladen. Ein Teesalon. Ein italienisches Restaurant. Ein Pub.
    Das aus roten
    Klinkersteinen gebaute Gebäude daneben musste das Heim sein.
    Leslie schluckte. Sie
    ging zum Parkautomaten, löste ihr Ticket, platzierte es sorgfaltig hinter der Windschutzscheibe
    ihres Autos. Ihre Bewegungen waren langsam, viel langsamer als sonst. Sie wusste, warum: Sie
    zögerte den Moment hinaus, da sie das Heim würde betreten müssen.
    Sie
    würde einem sehr alten Mann gegenübertreten, der, glaubte man Fionas Aufz eichnungen und Semiras Worten, auf dem geistigen Niveau
    eines Kindes lebte. Sie konnte ihn sich nicht recht vorstellen. Spielte er mit Bauklötzen?
    Starrte er einfach nur apathisch vor sich hin? Oder gab es sogar Tage, schöne, sonnige,
    besondere Tage, an denen ihn eine Schwester am Arm nahm und mit ihm spazieren ging und
    vielleicht einen Tee im Cafe nebenan trank und ihm ein Stück Kuchen
    spendierte?
    Sie holte sehr tief
    Luft und überquerte die Straße.
    Sie sah Stephen,
    kaum dass sie eine Stunde später wieder vor die Tür trat. Er lehnte an ihrem Auto, die Hände
    tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, die
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