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Das Amulett der Pilgerin - Roman

Titel: Das Amulett der Pilgerin - Roman
Autoren: Laura Bastian
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urteilen, war es mitten in der Nacht. Der Mond warf ein fahles, unwirkliches Licht in das Zimmer. Wer war sie? Sie betrachtete ihre Hände. Dies waren nicht die Hände einer Bäuerin. War sie von edler Geburt? Oder vielleicht war sie eine Bürgerin oder auch nur eine Zofe? Ihr Blick wanderte durch den Raum. Neben der Tür stand ein Tisch mit einer Waschschüssel und darunter ein Nachttopf. Es war eine sehr schlichte Gästekammer einer bescheidenen Schenke, und sie lag auf einem Strohlager mit schlecht gelüftetem Bettzeug. Dort stand der Stuhl, auf dem der Spanier gesessen hatte. Rinaldo della Rosa del Ranguano war ein ungewöhnlicher Mann. Er war sehr groß und sehr dick, und seine Stimme hätte die einer Frau sein können. Aber er schien ein Freund zu sein und einer, der zudem kein körperliches Interesse an ihr hatte. Die versammelten Männer des Dorfes hatten sie vorhin mit ihren lüsternen Blicken regelrecht ausgezogen. War sie eines Mannes Frau? Hatte sie Kinder? Ergebnislos kreisten ihre Gedanken, bis es anfing zu tagen.
    Die Wirtin hatte ihr das Unterkleid der Tochter überlassen. Ihr eigenes war nicht mehr zu gebrauchen. Aber das cremefarbene Kleid, in dem sie angespült worden war, war aus festem Leinen, und wenn es geflickt wurde, konnte sie es noch tragen. Sie saß dem Spanier gegenüber in der Schankstube. Sie waren allein, die Männer des Dorfes gingen ihrer Arbeit nach, und nur ein zahnloser Greis saß am Fenster im Sonnenschein und murmelte leise unverständliche Dinge vor sich hin.
    »Haben Sie vielleicht etwas geträumt, Mademoiselle, das ein Hinweis sein könnte?«
    »Nein. Gar nichts. Ich weiß nicht einmal, wie ich heiße.«
    »Dann müssen wir Ihnen einen Namen geben, bis Sie sich erinnern. Jeder Mensch braucht einen Namen.«
    Ja, sie brauchte einen Namen. Sie fühlte sich, als wenn sie gar nicht richtig existierte.
    Der Spanier kniff die Augen zusammen und sagte dann: »Wie wäre es mit Viviana? Es heißt ›die Lebendige‹. Ich finde es passend, schließlich sind Sie dem Meer entkommen.«
    »Viviana.« Ihre Lippen formten lautlos den Namen. Er gefiel ihr. Ja, sie würde sich Viviana nennen, bis ihr ihr richtiger Name wieder einfiel. Sie lächelte den Spanier an.
    »Ich bin Viviana. Es ist schön, Sie kennenzulernen, Se ñ or Rinaldo. Oder wollen wir doch lieber ein bisschen weniger förmlich sein?«
    »Sehr gut!« Er strahlte sie an, und sie fand sein freundliches, etwas aufgedunsenes Gesicht sehr liebenswert.
    »Also, Viviana, lass uns das Wenige herausfinden, was es über dich zu wissen gibt. Dies ist das Kleid, das du getragen hast, als du an den Strand geschwemmt wurdest?«
    »Ja, ich habe nichts Bemerkenswertes daran finden können. Es ist sehr schlicht, aber die Qualität ist gut, sonst hätte es allem nicht so gut standgehalten.« Viviana blickte an sich herunter. »Es ist aber sicher nicht das Kleid einer noblen Dame.«
    Sie streckte ihre Hände über den Tisch.
    »Schwere Arbeit habe ich mit meinen Händen aber nicht verrichtet.«
    Der Spanier betrachtete ihre Hände eingehend und nickte.
    »Ich habe nachgefragt. Es ist bisher keine Kunde von einem gesunkenen Schiff ins Dorf gelangt. Nachrichten von einem Schiffsunglück verbreiten sich schnell an der Küste. Immerhin besteht dann die Chance, lohnendes Strandgut zu finden«, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.
    »Es gibt so viele Möglichkeiten. Ich habe mir letzte Nacht den Kopf zermartert. Ich spreche Französisch, und wahrscheinlich bin ich über den Kanal gekommen. Ich spreche aber auch sehr gut Englisch, und vielleicht lebe ich hier und bin nur bei einer Ausfahrt über Bord gefallen? Oder ich bin einfach unachtsam gewesen und von einer Klippe gestürzt und ein Stück abgetrieben?«
    »Wenn du hier aus der Nähe kommst, dann müsste eigentlich bald eine Nachricht eintreffen, dass du vermisst wirst.«

• 2 •
    D as ist sehr unbefriedigend, meine Herren!« Der Kardinal schlug unwirsch mit seiner fleischigen Pranke auf den Tisch.
    Julian pflichtete ihm im Stillen bei.
    Letzte Woche war Godefroy Helmet mit aufgeschlitzter Kehle zwischen Westminster und London aus der Themse gefischt worden. Einen Tag zuvor hatte er Julian erzählt, dass im Umfeld des Königs eine Verschwörung geplant wurde. Er konnte noch keine Details oder Namen nennen, aber er war sich sicher, bald mehr Informationen zu bekommen. Julian hatte der Sache keine Bedeutung beigemessen. Godefroy verstieg sich gerne in wilde Theorien, die sich bisher noch nie
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