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Das Amulett der Pilgerin - Roman

Titel: Das Amulett der Pilgerin - Roman
Autoren: Laura Bastian
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seufzend aus. Viviana betrachtete ihn. Armer Rinaldo, jetzt, da er mit ihr reiste, war er gezwungen, zu Fuß zu gehen, und das war er offensichtlich nicht gewohnt. Sie selbst hatte zwar eine viel bessere Kondition als der Spanier, aber lange Fußmärsche schienen auch in ihrer Vergangenheit nicht üblich gewesen zu sein. Sie rieb sich ihre schmerzenden Zehen und warf einen grimmigen Blick auf Trudys ausgelatschte Schuhe. In der nächsten Stadt musste sie eine Möglichkeit finden, etwas zu verdienen, um sich ein Paar neue Schuhe kaufen zu können. Aber wie sollte sie etwas verdienen, wenn sie nicht einmal wusste, ob sie überhaupt irgendeine Fertigkeit besaß? Mutlos legte sie ihre Kette wieder um. Irgendwann musste sie sich doch erinnern! Die Landschaft, durch die sie wanderten, war wunderschön mit den felsigen Höhen und den bewaldeten Tälern, aber nichts kam ihr bekannt vor.

• 5 •
    D as gedämpfte Licht der alten Kirche hatte eine beruhigende Wirkung auf Julian. Kaum dass er König Henrys Gespielin in Wildemoore abgeliefert hatte, war er weiter nach Exeter geritten, um aus Miss Marguerites Schusslinie zu gelangen. Nachdem er sich einquartiert und eine Mahlzeit zu sich genommen hatte, war er ziellos durch die Straßen geschlendert. Seit gut einer Stunde saß er nun hier, inmitten der geschäftigen Stadt, in der unwirklichen Stille einer kleinen Kirche. Auch in Exeter war in den letzten Jahren eine große Kathedrale für den Bischof gebaut worden. Diese riesigen Gebäude waren beeindruckend, und die Leistung der Baumeister war enorm. Julian interessierte sich für Mathematik. Die statischen Berechnungen, die erforderlich waren, um derartig in die Höhe zu bauen, faszinierten ihn. Er hatte leider nicht genug Zeit, all die großen Wunder dieser Welt zu studieren. Er hatte nicht einmal genug Zeit, sich den kleinen Wundern zu widmen. Julians Blick fiel auf den Altar. Die Zugluft ließ die einzige Altarkerze auf der einen Seite schneller als auf der anderen Seite herunterbrennen. Der Luftzug musste von der Seitentür durch die Apsis herein- und durch die offenen Fensterbögen wieder hinausströmen. Die Wachsspuren auf dem hölzernen Kerzenhalter zeigten, dass die Kerze immer wieder gedreht wurde, um das unregelmäßige Abbrennen auszugleichen. Heute allerdings noch nicht. Warum nicht? War der Küster nachlässig? Hatte er etwas anderes zu tun? Julian schloss die Augen, um seine rastlosen Gedanken zu sammeln. Es hatte keinen Sinn, auszuweichen. Er spürte, wie der Schmerz in ihm hochstieg. Auf den Tag genau vor sechs Jahren hatte er Aelia zum letzten Mal gesehen. Sie hatten sich wie so oft gestritten. Sie wollte, dass er öfter zu Hause war, aber er hatte gerade angefangen, für den Kardinal zu arbeiten. »Das ist nicht möglich und Schluss damit!«, hatte er gesagt, und Aelia war wütend in die Küche gestürmt und hatte die Tür zugeknallt. Als er am nächsten Tag von seinem Auftrag zurückkam, war sie verschwunden. All ihre Sachen waren da, aber seine Frau war wie vom Erdboden verschluckt. Julian saß mit geschlossenen Augen da und spürte dem brennenden Schmerz nach, der sich durch seinen Körper fraß. Reue, Trauer, Wut. Ein teuflisches Gemisch. Seine Ziele waren einmal so klar gewesen: eine Familie gründen, Karriere machen und Geld verdienen. Und wenn er genug Geld verdient hätte, wären sie aufs Land gezogen. Gelegentlich hätte er königliche Verwaltungsaufgaben übernommen und sich ansonsten seinen Studien gewidmet und in Ruhe Bienen gezüchtet oder vielleicht Hühner. Aber mit Aelia war auch der Sinn seines Lebens spurlos verschwunden, und ebensowenig wie seine Frau hatte er ihn wiederfinden können. Julian öffnete die Augen. Der Schmerz hinterließ eine gähnende Leere in ihm. Nach unerfreulichen und, wie er fand, sinnlosen Aufträgen wie dem letzten wurde diese Leere zu einem riesigen, schwarzen Nichts, das ihn verschlang. Sollte das der Inhalt seines Lebens bleiben, sittenlose Weiber durch das Reich zu eskortieren und diebische Knechte zu jagen? Er rutschte von der Bank auf die Knie und faltete die Hände vor seinem Gesicht. Er brauchte eine Inspiration, ein Zeichen. Irgendetwas.
    Es war inzwischen später Nachmittag, und die Schankstube war sehr voll. Obwohl die kleinen Fensterluken geöffnet waren, war die Luft stickig und roch nach Schweiß, Bier und einem seltsamen Gemisch von Essensdüften. Julian rümpfte die Nase und wollte gerade wieder gehen, als sein Blick auf den großen, südländisch
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