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Das alte Haus am Meer

Das alte Haus am Meer

Titel: Das alte Haus am Meer
Autoren: wentworth
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dass er mein Etui dort oben fallen gelassen hatte und schickte sie los, es zu suchen.«
Das Seltsamste an dieser ungewöhnlichen Situation war die ruhige Art, in der sie über alles sprachen. Leidenschaft und unerträgliche Angst, vermeintlicher Hass und die Reaktion darauf, Verdacht und Zweifel. Zuerst das langsame Schwinden und dann das gewalttätige Ende von Hoffnung und Vertrauen und Liebe. Es war eine Achterbahn der Gefühle gewesen. Nun lag alles hinter ihnen, war vorbei. Sie sprachen mühelos und rückhaltlos miteinander. Keiner konnte das Gesicht des anderen sehen, aber ihre gegenseitigen Gedanken erschienen ihnen einfach und klar.
Nach einer langen Pause sagte Lisle:
»Und Alicia, wusste sie etwas?«
Es gab keine Antwort. Es würde nie eine Antwort darauf geben. Wie viel Alicia wusste oder vermutete – über Lydia, über Cissie –, das konnte nur Alicia selbst sagen, und das würde sie nie tun.
Das Schweigen war beredt. Und schließlich brach Lisle es:
»Das Wasser steigt …«
    46

    Vom Einsetzen der Ebbe bis zum Sonnenuntergang hatte das Felsenloch das Licht und die Hitze des Tages gespeichert. Das Wasser war noch warm. Es war Lisle zwar nicht so erschienen, aber sie spürte es jetzt, als die Flut neues, kaltes Wasser hereinspülte, das ihr gegen die Brust und die Schultern schwappte und sie auf ihrem unsicheren Untergrund hin und her schaukelte. Mit einer Hand hielt sie sich am Gürtel fest, mit der anderen an der Felswand.
    Die neue, kalte Welle zog sich zurück, kam erneut, schüttelte sie, ließ sie erschauern und hob sie hoch – auf und ab, auf und ab, Gezeiten innerhalb der Gezeiten, aber jede Welle stärker und kälter als die letzte.
    Endlich war es so weit, und Rafes Hand erreichte und umfasste ihr Handgelenk. Für Lisle war damit das Schlimmste vorbei. Rafe stand es noch bevor. Der Fels, auf dem er lag, war voller Tang und rutschig. Er konnte sich nirgends festhalten und war gezwungen, zu warten, bis das Wasser nur noch einen Meter unterhalb der Felsenkante war, bevor er Lisle hochziehen konnte. Sie war steif und erschöpft. Er musste sie zwischen den Felsen hindurch zu dem Sandriff bringen, dann um die Felsspitze herum und durch die Steinbrocken auf der anderen Seite. Es war der einzig mögliche Weg. Sowohl der Kiesstreifen auf der einen Seite als auch die Sandbank auf der anderen waren jetzt tief unter Wasser, das zunächst noch vom Riff zurückgehalten worden war, jetzt aber alle tiefer liegenden Teile überflutet hatte.
    Hätte er nicht jeden Fels am Strand gekannt, jede Rinne, es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Selbst bei Tageslicht würde kein einigermaßen vernünftiger Mensch versuchen, einen Weg durch diese Furcht erregenden und zerklüfteten Felsen zu finden, die kaum von Wasser bedeckt waren. Die schlimmsten waren auf dieser Seite der Shepstone-Wand. Wenn er mit Lisle das Riff erreichte, hatten sie es geschafft. Aber er musste zum Riff gelangen. Sie war nie eine gute Schwimmerin gewesen und würde es nicht alleine schaffen.
    Er glitt ins Wasser, Lisle ließ sich treiben, und Rafe dirigierte sie zum Riff. Dabei schwamm er langsam und äußerst vorsichtig, einen Arm um Lisle gelegt. Mit den Augen suchte er nach bekannten Felsformationen.
    Im Juli wird der Sommerhimmel nie ganz dunkel. An einem klaren Abend gibt es immer irgendein schwaches, geheimnisvolles Licht, das Formen und Substanzen zwar nicht im Detail, aber in verschiedenen Stufen von Dichtigkeit erkennen lässt. Für Rafe hatten die schemenhaften Formen feste Konturen. Es war nicht eine darunter, die er nicht erkannte, so wie er sie unzählige Male im Tageslicht gesehen hatte.
    Er bewegte sich langsam, aber mit einer Sicherheit, die aus Übung und Gewohnheit kommt. Lisle lag passiv im Wasser. Sie hätte bewusstlos sein können. Er fragte sich, ob sie ohnmächtig war. Ihr Gesicht sah er nur als blasses Oval.
    Lisle war nicht bewusstlos, aber ihr Bewusstsein war in einem seltsamen Zustand. Es hatte Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen konnte sie denken, alles darüber hinaus war so vage und düster wie das Meer, in dem sie trieb. Sie hatte keine Angst mehr. Sie war sicher. Das hatte Rafe gesagt. Sie war sicher, aber sie fror und war sehr müde. Mehr als alles andere in der Welt wollte sie sich hinlegen und schlafen. Sie spürte die Bewegung des Wassers. Sie spürte Rafes Arm. Wie die Zeit verging, bekam sie nicht mit. Sie wusste, dass sie vorwärts kamen, aber sie spürte nicht, wann sie die Felswand umrundet hatten
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