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Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)

Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)

Titel: Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
Autoren: Gillian Flynn
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überhaupt Freunde. Ich hätte jemanden bei mir haben sollen. Oder wenn nicht, wenigstens jemanden, der darauf wartete, dass ich mich meldete. Aber ich hatte nur einen Zettel auf die Treppe in meinem Haus gelegt, auf dem stand, wo ich war, und Lyles Brief daran geheftet. Für den Fall, dass ich verschwand, hatten die Cops wenigstens einen Ansatzpunkt für ihre Suche. Wenn ich eine Freundin hätte, hätte sie vielleicht gesagt:
Ich lass dich auf gar keinen Fall allein da hingehen, Süße
 – in diesem fürsorglichen Ton, den Frauen oft an sich haben.
    Vielleicht aber auch nicht. Seit den Morden war ich permanent unsicher bei solchen Entscheidungen. Ich machte mich immer erst mal auf das Schlimmste gefasst, denn schließlich hatte ich das Schlimmste erlebt. Andererseits sagte ich mir, dass es doch äußerst unwahrscheinlich war, dass mir, der kleinen Libby Day, zu allem, was ich schon durchgemacht hatte, noch etwas Schreckliches zustoßen würde. War ich nicht schon genug gestraft? Eine glänzende, unanfechtbare statistische Erkenntnis, oder etwa nicht? Weil ich mich nicht entscheiden kann, schwanke ich zwischen drastischer Übervorsicht (ich lasse nachts immer das Licht an, und auf meinem Nachttisch liegt griffbereit der Colt
Peacemaker
meiner Mom) und lächerlicher Unvorsicht (ich gehe allein zu einem Kill Club in einem unbewohnten Gebäude).
    Um ein paar Zentimeter größer zu wirken, hatte ich Stiefel mit Absätzen angezogen, von denen der rechte wesentlich lockerer saß als der linke, wo der Fuß kaputt ist. Am liebsten hätte ich mir alle Knochen gebrochen, nur um ein bisschen lockerer zu werden. Ich war dermaßen angespannt. So wütend, dass ich mit den Zähnen knirschte. Es war einfach nicht richtig, dass jemand so dringend Geld brauchte wie ich. Im Lauf des Tages hatte ich mir einzureden versucht, dass das, was ich tat, vollkommen unverfänglich und harmlos wäre, und hatte kurzfristig sogar an meine noblen Beweggründe geglaubt. Die Leute, mit denen ich mich traf, interessierten sich für meine Familie, ich war stolz auf meine Familie, und ich gewährte diesen Menschen Einblicke, die sie sonst von niemandem bekommen konnten. Und wenn sie mir dafür Geld anboten, würde ich es annehmen, dafür war ich mir nicht zu schade.
    Aber in Wirklichkeit war ich nicht stolz auf meine Familie. Niemand hatte die Days je gemocht. Mein Vater, Runner Day, war verrückt, betrunken und ordinär gewalttätig – ein kleiner Mann mit hinterlistigen Fäusten. Meine Mutter hatte vier Kinder in die Welt gesetzt, um die sie sich nicht angemessen kümmern konnte. Arme Pleitebauernkinder, übelriechend und verschlagen. Wenn wir in der Schule auftauchten, waren wir immer aus irgendeinem Grund in Not: Mal hatten wir nicht gefrühstückt, mal waren unsere Klamotten zerrissen, der Rotz lief uns aus der Nase, wir hatten Halsentzündung. Ich und meine beiden Schwestern lösten in unserer kurzen Grundschulzeit mindestens vier Läuseseuchen aus. Die dreckigen Days.
    Und nun, gut zwanzig Jahre später, hatte ich mich an diesen seltsamen Ort begeben, weil mir wieder mal etwas fehlte. Geld, um genau zu sein. In der Gesäßtasche meiner Jeans war ein Briefchen, das Michelle mir einen Monat vor den Morden geschrieben hatte. Sie hatte ihn aus einem Spiralblock gerissen, sorgfältig den ausgefransten Rand entfernt und das Papier dann kunstvoll in Form eines Pfeils gefaltet. Der Brief handelte von den üblichen Dingen, um die Michelles Viertklässlerinnengedanken kreisten: ein Junge in ihrer Klasse, ein blöder Lehrer, die hässlichen Designerjeans, die irgendein verwöhntes Mädchen zum Geburtstag bekommen hatte. Lauter langweiliges, unwichtiges Zeug – ich hatte schachtelweise solches Zeug, das ich von einem Umzug zum anderen mitschleppte –, Schachteln, die ich bisher nie geöffnet hatte. Ich hatte vor, für das Briefchen zweihundert Dollar zu verlangen. Kurz durchzuckte mich ein Gefühl schuldbewusster Freude, als ich an all den anderen Kram dachte, den ich noch verkaufen konnte. Aus irgendeinem Grund hatte ich es nicht über mich gebracht, den Plunder wegzuwerfen.
    Ich stieg aus und schaute mich um.
    Die Nacht war kalt, obwohl an manchen Stellen Frühling in der Luft lag. Am Himmel stand ein riesiger gelber Mond wie ein chinesischer Lampion.
    Langsam stieg ich die verdreckten Marmorstufen empor. Unter meinen Füßen raschelten tote Blätter, ein unangenehmes Geräusch wie von morschen Knochen. Die Eingangstüren waren aus dickem, schwerem
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