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Daddy Langbein

Daddy Langbein

Titel: Daddy Langbein
Autoren: Jean Webster
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mir selbst Trost zusprechen. Denn obwohl ich glücklicher bin, als ich je erträumt habe, bin ich auch ernster. Die Angst, daß Dir etwas passieren kann, ist wie ein Schatten auf meinem Herzen. Bisher konnte ich immer leichtfertig und sorgenfrei und unbekümmert sein, weil ich nichts Kostbares zu verlieren hatte. Aber jetzt — ich werde für den Rest meines Lebens eine ganz große Sorge haben. Sooft Du von mir weg bist, werde ich an alle Autos denken, die Dich überfahren können, und an alle Ziegel, die auf Deinen Kopf fallen können, oder die schrecklichen beweglichen Bakterien, die Du schlucken kannst. Mein Seelenfriede ist auf immer dahin — aber ich habe ja auch nie viel auf einfachen Frieden gegeben.
    Bitte werde schnell, schnell, schnell gesund. Ich möchte Dich ganz in der Nähe haben, wo ich Dich anrühren kann, um mich zu überzeugen, daß Du vorhanden bist. Solch eine kurze halbe Stunde wie die, die wir zusammen hatten! Ich habe Angst, daß ich sie vielleicht nur geträumt habe. Wenn ich nur ein Mitglied Deiner Familie wäre (eine sehr entfernte Cousine vierten Grades), dann könnte ich kommen und Dich jeden Tag besuchen und Dir vorlesen und Deine Kissen zurechtschütteln und die zwei Falten auf Deiner Stirn glätten und Deine Mundwinkel in ein vergnügtes Lächeln verwandeln. Aber Du bist wieder vergnügt, nicht wahr? Du warst es gestern, bevor ich fortging. Der Arzt sagte, ich müsse eine gute Pflegerin sein, weil Du um zehn Jahre jünger aussiehst. Ich hoffe, daß Verliebtsein nicht jeden um zehn Jahre jünger macht. Wirst Du mich immer noch liebhaben, wenn es sich herausstellt, daß ich erst elf Jahre alt bin, Liebling?
    Gestern war der allerwundervollste Tag, den ich je erlebt habe. Wenn ich neunundneunzig Jahre alt werde, werde ich nie die kleinste Einzelheit vergessen. Das Mädchen, das Lock Willow im Morgengrauen verließ, war eine ganz andere als die, die nachts ' zurückkam. Mrs. Semple weckte mich um halb fünf. Ich war in der Dunkelheit sofort ganz wach, und mein erster Gedanke war: „Ich werde Daddy-Langbein sehen!“ Ich aß mein Frühstück in der Küche bei Kerzenlicht und kutschierte dann die fünf Meilen zur Bahn durch die herrlichste Oktoberfärbung. Unterwegs kam die Sonne heraus, und der Sumpfahorn und der Hartriegel glühten purpurn und orangerot, und die Steinmauern und Maisfelder funkelten im Rauhreif; die Luft war schneidend und klar und verheißungsvoll. Ich wußte, daß etwas passieren würde. Die ganze Zeit in der Bahn sangen die Schienen „Du wirst Daddy-Langbein sehen“. Es gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Ich hatte ein solches Vertrauen zu Daddys Fähigkeit, die Dinge in Ordnung zu bringen. Und ich wußte, daß irgendwo ein anderer Mann — geliebter als Daddy — mich sehen wollte, und irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich auch ihn vor dem Ende der Reise sehen würde. Und Du siehst!
    Als ich an das Haus in der Madison Avenue kam, sah es so groß und braun und abweisend aus, daß ich nicht wagte, hineinzugehen, sondern erst um den Block lief, um mir Mut zu machen. Aber ich hätte gar keine Angst zu haben brauchen. Dein Majordomo ist so ein netter väterlicher alter Mann, daß ich mich gleich zu Hause fühlte. „Sind Sie Miss Abbott?“ fragte er, und ich sagte „Ja“, also mußte ich gar nicht nach Mr. Smith fragen. Er bat mich, im Salon zu warten. Es war ein sehr dunkles, prächtiges, männliches Zimmer. Ich setzte mich auf den Rand eines großen Polsterstuhls und sagte vor mich hin:
    „Ich werde Daddy-Langbein sehen! Ich werde Daddy-Langbein sehen!“
    Dann kam der Mann zurück und bat mich, bitte in die Bibliothek zu kommen. Ich war so aufgeregt, daß meine Füße mich wirklich und wahrhaftig fast nicht hinauftrugen. Außerhalb der Tür drehte er sich um und flüsterte: „Er war sehr krank, Miss. Heute ist der erste Tag, daß er aufsitzen darf. Sie bleiben doch nicht so lange, daß er sich aufregt?“ Ich wußte aus der Art, wie er das sagte, daß er Dich liebt — und ich finde, er ist ein alter Liebling!
    Dann klopfte er und sagte: „Miss Abbott“, und ich ging hinein, und die Tür ging hinter mir zu.
    Es war so dämmrig nach der hell erleuchteten Halle, daß ich einen Augenblick kaum etwas erkennen konnte; dann sah ich einen großen Lehnstuhl vor dem Feuer und einen funkelnden Teetisch mit einem kleineren Stuhl daneben. Und es wurde mir klar, daß in dem Lehnstuhl ein Mann saß, mit Kissen und einer Decke über den Knien. Bevor ich es verhindern
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