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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Lilly Lindner
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gehören all denen, die sich zu ihnen bekennen; und es gibt Momente, die sind jenen vorbehalten, die das Vermögen besitzen, sie zu benennen.

    Es gibt unendlich viele Geschehnisse auf dieser Welt.
    Unendlich viele Fragen und Antworten.
    Unendlich viele Gesichter.
    Unendlich viel Licht.

    Und es gibt die Zeit.
    Immer wieder.
    Die Zeit.

Teil 2

Zeitlos
    Die Stadt am See
    J enny Emmet steht an dem großen See am Rande der kleinen Stadt der verlorenen Zeit. Das Ufer ist sandig. Jenny ist barfuß, wie immer. Das Wasser schwappt gegen ihre winzigen Zehen. Sie lacht leise auf, weil sie das Gefühl so gerne mag.
    Ein leichter Wind weht.
    Auf einmal wird er stärker.
    Und dann stehen wie aus dem Nichts plötzlich drei Gestalten neben Jenny. Sie weinen und schlagen unglücklich ihre Hände vor die Gesichter. Jenny schluckt und hustet. Dann geht sie einen Schritt auf die drei Gestalten zu. Es sind ihre Schwestern und ihre Mutter. Sie sind gekommen, um Abschied zu nehmen, an Jennys Grab.
    Dort drüben.
    In der anderen Stadt.
    Jenny möchte die drei umarmen, sie möchte sich an sie klammern und ihnen ein letztes Mal zuflüstern, wie lieb sie sie hat. Aber Jenny kann es nicht – sie ist viel zu weit weg.
    Denn da gibt es eine unsichtbare Grenze.
    Die die Zeit von der Zeitlosigkeit trennt.
    Und Jenny ist gefangen, mitten in diesem Grenzgebiet. Sie versteht noch nicht, wo sie sich befindet, sie weiß noch nicht, warum sich die Vergangenheit nahtlos mit der Gegenwart und der Zukunft vermischt. Sie wundert sich über ihre Freunde, die gemeinsam Völkerball spielen, auf der kleinen Wiese, gleich da vorne, gar nicht allzu weit entfernt von ihr. Vielleicht könnte sie hinüberlaufen und mitspielen? Vielleicht wird sie jetzt endlich wieder gesund.
    Vielleicht hat es sich gelohnt.
    Das jahrelange Kämpfen.

    Jenny Emmet. Das blasseste Mädchen in der Stadt am See, das zierlichste Wesen zwischen den tanzenden Nebelschwaden und Nachtgestalten am Ufer. Gerade noch stand ihre Familie um sie herum, doch dann ist sie einfach verschwunden. Oder war das nur ein Traum? Verzweifelt blickt Jenny sich um, aber da ist nichts, was ihr ein haltendes Versprechen geben kann.
    Jenny Emmet.
    Totes Mädchen.
    In der Stadt am See.
    Sie steht verloren am Wasser und fragt sich, ob der dichte Nebel sich jemals verzieht, oder ob er immer auf der Wasseroberfläche ruht, weil dort ein unsägliches Geheimnis verborgen liegt.
    Gespenster huschen um Jenny herum. Manchmal kann sie einige davon ganz deutlich sehen, aber in der nächsten Sekunde lösen sie sich in Luft auf oder fliegen lachend davon. Jenny taumelt, ihr ist schwindlig. Was ist nur los, mit diesem Ort?
    Ist er verhext? Oder verflucht?
    Am Himmel zieht eine Wolke vorbei, sie sieht aus wie ein Kranich. Ein alter Mann und ein junges Mädchen blicken dem Kranich hinterher, genauso wie eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter.
    Dann wird es auf einmal dunkel, nur ein brennendes Haus erleuchtet die Nacht. Autoreifen quietschen, zwei Kinder schreien auf. Eines überlebt. Eines stirbt.
    Rauch- und Staubwolken steigen über einer Stadt in der Ferne auf, Feuerwehrmänner versuchen Gebäudeteile beiseitezuschieben, um Menschen aus den Trümmern eines zusammengestürzten Clubs zu retten, aber sie kommen zu spät.
    Die Leiche einer jungen Frau, in einem zerrissenen weißen Kleid, wird von vermummten Männern auf einer Müllhalde abgeladen und kurz darauf verbrannt.
    Auf einem Balkon schläft ein alter Mann ein, in einem Fluss treibt ein schneeweißes Kind, ein Mädchen liegt tot in einer Blutlache auf dem Fußboden, ein anderes Mädchen liegt erstarrt im Rampenlicht auf einem Laufsteg und ein weiteres regungslos auf einem düsteren Kellerboden.
    Ein junger Mann hält weinend eine junge Frau im Arm, in einem Café mit hellgrünen Wänden. Ein letztes Lied wird gespielt – eine allerletzte Zugabe.
    Jenny hat Angst.
    Sie hat all diese Menschen noch nie gesehen.
    Und sie weiß auch nicht, warum sie alle sterben.
    Aber da dringt auf einmal leise flüsternd eine Stimme an Jennys Ohr: »Sieh nur … da vorne, da vorne – da vorne wartet die Zeit. Aber sie gehört nicht mehr dir. Du bist ihr entkommen; das ist ein Fluch und ein Geschenk zugleich. Dreh dich um, in jede Richtung, du kannst überall und nirgends sein. Du bist frei. Zu gehen, wohin auch immer du möchtest. Nur zurück in die Zeit kannst du nicht. Aber sieh nur, da vorne wartet ein Junge. Siehst du ihn? Dort auf dem Baum. Er kennt dich, aus dem Schlosspark,
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