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Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Titel: Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
Autoren: Christine Westermann
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hässliches Braun, an Aufbruch? Warum kann ich nicht tatsächlich auf dem Boden bleiben? Schritt für Schritt nur spüren.
    Ich spüre Ungeduld, Ungeduld mit mir. Mache die Augen zu, um so die Konzentration nur auf meineFüße zu lenken. Klappt nur kurz, dann trete ich meinem Vordermann in die Hacken. Stilles Gehen geht anders.
    Neuer Versuch. Zu gehen und nicht zu denken. Ein Vorsatz, der geschätzte dreißig Sekunden dauert. So lange, bis ich die Namensschilder entdecke. Vor jedem Schneidersitzerplatz, vor jedem Fußbänkchen, liegt ein Zettel mit einem Namen. Nach der Roland/Thomas-Erfahrung bin ich sehr vorsichtig geworden. Auch ein Eberhard kann mitten im Leben stehen und mit einer Sieglinde den ganzen Tag Champagner trinken.
    Aber an den Nachnamen scheitere ich schließlich doch. An den Namen mit Bindestrich. Doppelnamen. Über die komme ich nicht hinweg. Ausgeschlossen.
    Laufenberg-Wittlich, von Hardenberg-Tolle. Schmitz-
Faller.
    Wie würde ich mich fühlen, wenn ich Menschen nicht sofort wegen eines Bindestrichs im Nachnamen in meine Sonderbar-Schublade einordnete?
    Besser.
    Ich will nicht mehr. Ich will in Zukunft ohne Scheuklappen, ohne ein in langen Lebensjahren gefertigtes Raster sehen.
    Nur noch das wahrnehmen, was auch da ist.
    Wie jetzt.
    Menschen, die mit anderen in einem großen Raum sitzen, meditieren, still gehen, ihre Füße spüren. Eine Frau trägt braune, viel zu große Hüttenschuhe. Was sagt das über diese Frau aus?
    Nichts, oder?

     

    Das buddhistische Zentrum liegt irgendwo tief drinnen in Bayern. Katholische Kapellen ducken sich wie Heckenschützen in das Tal, das die Anlage umgibt. Wenn sehr frühmorgens um sechs die dröhnenden Schläge des Gongs zum Meditieren rufen, mischt sich immer auch das Glockengeläut der katholischen Konkurrenz darunter.
    Beim Aussperren der Gedanken drängt sich noch schnell ein besonders vorwitziger weit nach vorn.
    Wie beruhigend, dass ich die Wahl habe.
    Ich kann es mir aussuchen, nach welcher Fasson ich selig werden möchte.
    Es gibt viel mehr als nur eine.

9
    W as soll auf Ihrem Grabstein stehen?
    Was ist Ihre größte Schwäche?
    Welche Farbe hat Einsamkeit?
    Ich bin solche Rauskitzel-Fragen leid.
    Wirklich?
    Warum bleibe ich dann im Fragebogen der Zeitung bei der Einsamkeit hängen?
    Warum durchforste ich insgeheim meine persönliche Farbskala?
    Die Farbe von Einsamkeit? Nicht rabenschwarz, nicht einmal dunkel.
    Wenn ich einsam bin, ist es hell. Einsamkeit gehört nicht zur Familie der Melancholie. Einsamkeit hat für mich keinen Schrecken.
    Ich bin ja nicht allein. Ich bin mit mir zusammen. Einsamkeit ist himmelblau oder sandgelb. Morgen- und Abendrot.
     
    Fünf Tage Schweigen bei den Buddhisten. Schweigen mit einer Fernsehkamera, die mir auf den Fersen bleibt. Christine, guck hier hin, Christine, geh noch mal von links nach rechts, Christine, sag mal … Es ist wie immer und doch ist es anders. Ich antworte zögernd, bin maulfaul. Will die Stille nicht vertreiben, sie hat sich einen Platz bei mir gesucht. Noch ein bisschenzögerlich breitet sie sich aus, als müsse sie abwägen, ob es sich lohnt zu bleiben.
    Wecken um fünf Uhr morgens, der Tag hat noch ein Nachtgewand an, es ist stockfinster, als ich in den Nieselregen hinaustrete. Schnelles Gehen. Schweigend. Kein »Guten Morgen«, nicht mal ein »Hallo«.
    Wortlos eilt man aneinander vorbei. Selbst ein Blickkontakt will mir nicht gelingen, als ich mich in die Runde einordne. Achtzig Leute laufen im Kreis, schnell, als hätten sie ein Ziel. Bus, Bahn, Arbeit, Alltag.
    Dabei gilt es, genau diese Gedanken auf Abstand zu halten, sich nur zu konzentrieren auf das Jetzt. Frau im Nieselregen läuft im Kreis. Meine Vorurteile sind wieder schneller als ich. Im Nu haben sie mich eingeholt. Ich taxiere meine Mitläufer, ordne sie ein.
    Schublade eins: die, die es nicht so ernst zu nehmen scheinen. Bummeln und Schlendern statt schnellem Gehen.
    Die Guten, denen ich mich verbunden fühle.
    Schublade zwei: die sofort Verdächtigen. Die, die alles richtig machen wollen, die mit weit ausholenden Schritten, mit durchgedrücktem Kreuz an mir vorbeifegen, auf deren Rücken eine imaginäre Neonschrift leuchtet: »So musst Du laufen. Sieht lächerlich aus, aber egal, ich mache alles richtig. Nimm Dir ein Beispiel.«
    »Alles Streber« ist die Leuchtschrift, die mein Gehirn dagegensetzt. Aber warum? Warum überlasse ich die Menschen nicht ihrem eigenen, selbst gewählten Rhythmus und kümmere mich um meinen?
    Da
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