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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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diktieren, lieber kleiner Schreiber Hieronymus, damit du redlich berichten mögest, mit der größten Treue und in allen Einzelheiten. An manchen Tagen wirst du dich beim Hören gewisser Heimlichkeiten bekreuzigen, und dir wird, da bin ich sicher, eine reizende Röte ins Gesicht steigen. Ich bedauere dichnicht. Du wirst dieses Leiden dem Herrn darbringen. Der Himmel ist dir dadurch umso gewisser.
    Von Häfen aus stechen die Schiffe nur in See, Hieronymus, in Fahrt bringt sie ein Traum. Viele Historiker haben bereits über die Entdeckung von Cristóbal berichtet oder werden darüber berichten, und sie werden über die Folgen diskutieren.
    Als sein Bruder, der ihn als Einziger seit seiner frühesten Kindheit kannte, sah ich, wie seine Idee geboren wurde und sein Fieber stieg.
    Von dieser Geburt, von dieser Verrücktheit werde ich dir erzählen. Vielleicht findet sich der Keim für unsere spätere Grausamkeit in diesem Wissensdurst?
    Auf deinen Platz, Hieronymus! Wir stechen in See!
    Bald sind wir in Lissabon, wo alles begann.

I
Die Neugier

 
     
     
     
    I ch bin in Genua geboren, das ein natürliches Gefängnis ist. An drei Seiten hat man das Gebirge vor sich. Bleibt die vierte: das Meer. Über das Meer entkommen die Bewohner, jeder auf seine Weise. Die einen treiben Handel, die anderen fahren zur See. Ich glaube, die ersten Schritte meines Bruders führten ihn zum Hafen.
    Ich selbst brauchte längere Zeit, bis ich mich davonmachte.
     

    «Weshalb sollte ich dich einstellen?»
    Mit dieser ebenso verächtlichen wie berechtigten Frage empfing mich in jenem Frühjahr 1469 das Königreich Portugal. Ich war noch keine sechzehn Jahre alt. Ich war einfach dem Strom gefolgt: Aus ganz Europa kamen die Leute nach Lissabon. Sei es, weil sie von zu Hause vertrieben wurden wie die gelehrten Juden von Mallorca, die der König von Katalonien plötzlich als unerwünscht erachtete. Sei es, weil sie etwas konnten, was die portugiesischen Monarchen interessierte, die über die entsprechenden Mittel (in klingender Münze) verfügten, um unsereins anzuziehen. Ich gehörte eindeutig zu einer untergeordneten Kategorie. Ich hatte einen Kunden meines Vaters, der zwar ein großer Trinker, aber gut unterrichtet war, erzählen hören, dass sich eine große Kolonie von Genuesen an den Ufern des Tejo niedergelassen hatte, um dort das Handwerk des Kartographen auszuüben.
    Diese Nachricht eröffnete mir neue Aussichten. Ich würde michendlich aus den Fängen der Familie befreien können. Ich wusste noch nicht, dass niemand dem Schicksal entgeht, das Gott ihm zugedacht hat, und dass eine noch üblere Sklaverei auf mich wartete.
     

    So kam es, dass ich die Tür von Meister Andrea aufstieß, der in seiner Zunft den besten Ruf hatte.
    «Weshalb sollte ich dich einstellen?»
    «Weil ich es gerne möchte.»
    «Gute Antwort. Aber das genügt nicht. So blass wie du aussiehst, so schwächlich, kann ich wohl davon ausgehen, dass du noch nie zur See gefahren bist. Täusche ich mich?»
    «Ihr täuscht Euch nicht.»
    «Und du bist viel zu jung, als dass du schon viele Seemannsgeschichten gehört haben könntest.»
    «Da habt Ihr recht.»
    «Was weißt du dann vom Meer?»
    «Nichts.»
    «Was, meinst du, ist ein Kartograph?»
    «Ein Mann, der… die Grenzen des Festlands aufzeichnet.»
    «Und folglich die Gestalt des Meeres. Bist du dieser Mann?»
    «Nein.»
    «Was nützt du mir, wenn du nichts kannst? Mast- und Schotbruch!»
    Mit geballten Fäusten, mit Tränen der Wut und der Scham in den Augen ging ich hinaus. Da fiel mir gerade noch rechtzeitig ein, woher ich stammte. Ich war immerhin Genuese! Und ein Genuese verliert einen Krieg nicht kampflos.
    Ich kehrte also in die Werkstatt zurück. Und rief laut:
    «Ich kann… ich kann…»
    In den Momenten, in denen die gute Fee Einbildung Mitleid mit mir hat und mir mit sanfter Stimme zuflüstert: Na los, Bartolomeo, dein Leben war keine so große Katastrophe, wie dumeinst, in diesen seltenen Momenten gelingt es mir, mein Haupt zu heben. Wenn ich zurückdenke, mit welchem Stolz ich an jenem Tag des Jahres 1469 reagiert habe, dann weiß ich, dass diese Reaktion ihren Teil zur Weltgeschichte beigetragen hat. Ohne das Aufbäumen meines Charakters wäre ich meines Weges gegangen und hätte nie von Meister Andreas großartigem Wissen profitiert. Und folglich hätte mein Bruder Cristóbal später darauf verzichten müssen. Aber hätte er sich ohne dieses Wissen in das unerhörte Abenteuer seiner Reise
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