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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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dasselbe innere Bild ihm den Weg: der tiefe Blick des Predigers.
    Und in der Nacht hörte ich hinter den vertrauten Geräuschen vom Hafen einen Klang, den ich nicht kannte, wie das Reiben eines Rads auf der Straße oder eines Mühlsteins, der sich dreht.
    Ich kam zu der Überzeugung, dass dieser Montesinos, verdammt sei er!, die Zeit wieder in Gang gesetzt hatte. Ich würde meinen Zufluchtsort verlieren. Die quälenden Fragen der Erinnerung, die ich so sehr fürchtete, waren im Anmarsch.
    Am folgenden Sonntag, lange vor der Messe, gab sich die ganze Insel, ich meine, alles, was auf der Insel spanisch war, ein Stelldichein vor dem Eingang des Konvents. Viele waren von weit her gekommen, aus den entlegensten Winkeln, aus der Provinz von La Vega, den Bergen und sogar von der Nordküste, von der Halbinsel Samaná. Das Gerücht hatte sich in Windeseile verbreitet. Niemand wollte die Predigt verpassen.
    Einige stiegen direkt aus dem Sattel. Sie bespritzten sich mit Brunnenwasser, um nicht allzu viel Staub in das Gotteshaus zu tragen. Seit Jahren hatte man sich nicht mehr gesehen. Man hatte sich schon für tot gehalten. Überraschte Ausrufe waren zu hören, man fiel sich in die Arme, es war wie ein Familienfest. Man besprach die neuesten schlechten Nachrichten, die Todesfälle, die Geburten, das harte Klima, die enttäuschenden Ernten, die geringe Minenausbeute.
    Nachdem man zwei, drei Worte gewechselt hatte, kam man auf die Indianer zu sprechen. Auf die Faulheit, das tierische Wesen, die Sittenlosigkeit, die Grausamkeit der Indianer. Dann machte man sich über den verrückten Priester her, der in wenigen Tagen die berühmteste Person auf der Insel geworden war. Kennst du ihn, diesen… Montesinos? Was hat denn den geritten? Angeblich hat der Vizekönig ihn empfangen. Und ihm den Kopf gewaschen.Sonst erlebt er sein blaues Wunder. Die Gesichter blickten wild. Man war bewaffnet erschienen.
    Die Dominikaner wussten nicht, wo ihnen der Kopf stand. Da man nicht in der Lage war, die Wände zu versetzen, konnte die Kirche keinen mehr aufnehmen. Gut drei Hundertschaften von Gläubigen waren, zu ihrer Entrüstung, schon zurückgedrängt worden. Und noch immer kamen welche hinzu. Schon bevor Antonio de Montesinos auch nur das Wort ergriffen hatte, herrschte der reinste Aufruhr.
    Schließlich fing inmitten des Grollens die Messe an. Wie es schien – doch ich verfügte über kein Instrument, um das Verstreichen der Zeit zu messen –, wurde der erste Teil beschleunigt.
    Und plötzlich ertönte eine laute Stimme über den Köpfen. Montesinos war da, war, keiner weiß wie, auf die Kanzel gekommen. Vielleicht hatten seine Indianerfreunde ihm ihre Fähigkeit übertragen, sich zu bewegen, ohne gesehen zu werden? Die Kanzel ruhte auf einer dicken, aus Holz geschnitzten Schlange. Einige unter den Zuhörern murmelten, dass dieser verfluchte Prediger einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe, um vor der Menge sicher zu sein.
    Warum haltet ihr diese Indianer in einer solch grausamen Knechtschaft? Warum führt ihr solch verabscheuungswürdige Kriege gegen diese friedlichen Völker? Warum tötet ihr sie, indem ihr ihnen eine Arbeit abverlangt, die keiner von euch überleben würde? Warum betrachtet ihr sie nicht als Menschen, sie, denen Gott ebenso eine Seele gegeben hat wie euch?…
    Weit davon entfernt ihn einzuschüchtern, hatten die Forderungen des Vizekönigs Montesinos sogar bestärkt. Seine Rede hatte an Autorität und Festigkeit gewonnen. Am vorausgegangenen Sonntag hatten seine Worte gezittert, nicht aus Angst, sondern vor Empörung. Dieses Mal durchschnitten sie die Luft so hart und zielsicher wie Geschosse.
    Das Publikum reagierte prompt. Stimmen erhoben sich, wurdenlaut und lauter. Zwanzig, dreißig
Encomenderos
waren aufgestanden, richteten, den Ort vergessend, an dem sie sich befanden, drohend den Finger auf den Prediger und befahlen ihm zu schweigen.
    Montesinos scherte sich überhaupt nicht um diese Missfallensbekundungen. Nicht nur, dass er seine Predigt mit unvermindert starker, klarer und entschlossener Stimme fortsetzte, er suchte zudem den Blickkontakt zu denjenigen, die am heftigsten auftraten.
    Diese Provokation hätte beinahe das Pulverfass entzündet. Es fehlte nicht viel, und eine Gruppe etwas Entschlossenerer hätte die Kanzel gestürmt. Ein Dutzend Dominikaner hinderten sie daran. Sie hatten wohl den Angriff kommen sehen und sich am Fuß der kleinen Holztreppe versammelt.
     

    Noch am Nachmittag kam ein Mann in den
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