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Cop

Cop

Titel: Cop
Autoren: R Jahn
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rieb sich den Schnurrbart und schob den Stetson nach hinten. Dann hakte er die Daumen in die Hosentaschen, begann auf den Fersen seiner Stiefel zu wippen und schaute zur Seite. Debbie schaute nicht zur Seite.
    »Fasst mich nicht an!«, schnauzte Ian, ohne genau zu wissen, wen er überhaupt meinte, und wandte sich wieder an seinen Sohn. »Jeffrey. Wo ist Maggie?«
    Als Jeffrey den Blick hob, sah Ian die Angst in seinen Augen. Sie brannten vor Panik, die hinter den Pupillen tanzte wie Flammen hinter dunklen Fenstern. Schnell sah Jeffrey wieder auf seine Füße. Er trug Hausschuhe aus blauem Cord, deren Stoff vom Gehen durch das nasse Gras dunkel angelaufen war. Sie hatten ihm die Hausschuhe letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt. Debbie hatte sie in der Drogerie gesehen und mitgenommen, als sie ein Rezept für Antibiotika eingelöst hatte, und zu den anderen Geschenken in das Paket geworfen, das sie alljährlich nach Kalifornien schickten, zusammen mit einer höflichen, aber distanzierten Grußkarte für Lisa, Jeffreys Mutter und Ians zweite Frau.
    »Sie ist weg«, sagte Jeffrey schließlich. Dabei starrte er weiter auf seine blauen Hausschuhe.
    »Weg?« Ian hatte mit allem gerechnet. Dass sie sich verletzt, den Arm gebrochen, die Finger auf der Herdplatte verbrannt oder sich schlimm geschnitten hatte – aber einfach weg? Was sollte das heißen? Sein Verstand scheiterte an diesem einen kleinen Wort.
    Jeffrey nickte, ohne aufzublicken.
    »Wie, weg?«
    Ein hilfloses Schulterzucken. »Ich … Ich weiß nicht … Ich hab sie ins Bett gebracht und David Letterman geschaut … Und auf einmal war da so ein Lärm in ihrem Zimmer, ich dachte, sie ist wieder aufgestanden. Also hab ich gerufen, sie soll ruhig sein und schlafen gehen, ich … ich hab ziemlich rumgebrüllt. Dann ist es sehr still geworden, und ich hab ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich so geschrien habe. Deshalb bin ich zu ihr, um nach ihr zu schauen und mich zu entschuldigen, falls sie beleidigt war, aber da war sie schon …« Er befeuchtete sich die Lippen. »Sie war weg.« Jeffrey blickte kurz auf und sofort wieder zu Boden.
    Wortlos ging Ian zum Haus, vorbei an Jeffrey und Chief Davis, den er dabei an der Schulter streifte. Er ging hinein und geradewegs in Maggies Zimmer. Das nun nicht mehr Maggies Zimmer ist. Das jetzt, in der heutigen, der anderen Welt, die der von damals gar nicht so unähnlich und doch völlig anders ist als sie, den Zwillingen gehört. Debbie und Bill haben es renoviert, gestrichen, einen neuen Teppich verlegen lassen, bis es kaum noch wiederzuerkennen war. Damals war es leer. Er lief zum Bett und legte die Hand auf die Mulde in der Matratze. Kalt. Nicht mal ein kleines bisschen Wärme war von ihrem Körper geblieben. Unter dem Kissen fand er einen Zahn. Die Zahnfee würde nicht mehr kommen. Zu spät. Er ging zum Fenster; es stand offen, eine leichte Brise bewegte den Vorhang. Der Rahmen des Fliegengitters befand sich noch an Ort und Stelle, das Gitter selbst war herausgeschnitten. Ein paar einzelne Fäden zitterten in der Luft, der Rest lag draußen im Gras. Bei jedem Windstoß blähte sich das Netz wie ein lebendiger Schatten.
    »Ian«, hörte er Davis in seinem Rücken sagen. »Du solltest besser nicht drin sein. Ich hab Sheriff Sizemore gebeten, ein paar Leute aus Mencken rüberzuschicken. Um die Spuren zu sichern.«
    Ian nickte, ohne sich umzudrehen. Er starrte hinaus in die Nacht. Ein erneuter Windstoß, das Fliegengitter bewegte sich. Nach einer Weile hörte er, wie Davis den Raum verließ. Ein paar Sekunden später riss er sich vom Fenster los und folgte ihm.
    Damals war er achtunddreißig, heute ist er fünfundvierzig, obwohl er sich manchmal älter vorkommt. Drei Ehen, eine Abtreibung, zwei Kinder (einen Sohn, mit dem er zuletzt vor drei Jahren gesprochen hat, eine Tochter, die mehr als doppelt so lange verschwunden war), sieben Knochenbrüche (vier Finger, das Schlüsselbein, die Nase, ein Zeh), eine Schussverletzung, vier Autounfälle, drei tote Haustiere, zwei tote Eltern. Ja, manchmal kommt er sich wirklich älter vor.
    Wirft man einen Blick über die Schulter auf das ganze Gepäck, das man sein Leben lang mit sich herumschleppt, kann man schon mal ans Aufgeben denken.
    Jeden Morgen ist es dasselbe: Er wacht auf und kann den Hals nicht richtig drehen, in der rechten Hand spürt er einen ersten Anflug von Arthrose, das rechte Knie ist so stark geschwollen, dass er es die erste Stunde über gar nicht beugen kann, sein
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