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Codewort Rothenburg

Codewort Rothenburg

Titel: Codewort Rothenburg
Autoren: Béla Bolten
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aufblätterte.
    »Vielleicht überzeugt dich das.«
    Luise schlug das Heft auf.
    »Ein Sprachführer?«
    Neeb nickte.
    »Schau mal genauer hin.«
    Luise blätterte die dritte Seite auf und las die russischen Übersetzungen von Redewendungen wie Wo ist der Kolchos-Vorsitzende? Bist du Kommunist? Hände hoch oder ich schieße! Ergebt euch! Was zum Teufel sollte ein Besucher in Stalins Riesenreich damit anfangen?
    Gustav Neeb registrierte ihren fragenden Blick.
    »Das Buch hat uns ein Druckereiarbeiter zugespielt. Es handelt sich um einen geheimen Auftrag vom Heer. Sie haben Zehntausende Exemplare gedruckt und ausgeliefert. Verstehst du jetzt, warum wir überzeugt sind, dass es Krieg mit der Sowjetunion geben wird?«
    Luise nickte stumm. Während sie schweigend ihren Kaffee trank, drehten sich die Gespräche der anderen vor allem um die Frage, wie sie nach einem Angriff auf Russland an aktuelle Informationen kommen sollten. Die russische Botschaft würde unweigerlich geschlossen, und sie hätten keine Kontaktleute mehr. Außerdem ging es um einen Sender, der beiseitegeschafft werden musste. Und um einen Flieger, der Probleme hatte. Zumindest wollten ihm alle helfen. Luise verstand von all dem nichts.
    Nach dem Essen trug Erna Kaffee auf, und Gustav schenkte großzügig Weinbrand in die Gläser. Die Stimmung änderte sich, auf einmal war es wie ein Kaffeeklatsch im Familienkreis.
    »Spiel doch was, Libs«, rief der Hüne vom Kopfende des Tisches.
    «Ja, hol das Instrument«, fielen alle ein und klatschten.
    Ein paar Sekunden später stellte die Frau eine Ziehharmonika auf ihre jungenhaft gespreizten Beine. Nach ein paar Takten erkannte Luise das Lied, klatschte in die Hände und sang mit: »Ich wollt’, ich wär’ ein Huhn.« Es folgte ein sentimentales Stück mit spanischem Text, von dem Luise nur »Rio negro« verstand. Der bullige Mann sang schunkelnd mit und rief am Schluss: »Hör auf mit diesem Schlagerquatsch, Libs. Spiel was Richtiges!«
    Die Angesprochene richtete sich kerzengerade auf und intonierte einen Marsch, den außer Luise alle im Raum zu kennen schienen und lautstark mitsangen:

    »Und weil der Mensch ein Mensch ist,
    drum braucht er was zu essen, bitte sehr!
    Es macht ihn ein Geschwätz nicht satt,
    das schafft kein Essen her.

    Drum links, zwei, drei!
    Drum links, zwei, drei!
    Wo dein Platz, Genosse, ist!
    Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront,
    weil du auch ein Arbeiter bist.«

    In diesem Stil ging es weiter, und alle sangen immer lauter und fröhlicher. Die Gesichter glühten, und niemand schien sich zu sorgen, dass sie jemand auf der Straße hörte. Die nächste halbe Stunde verging in ausgelassener Stimmung. Am Ende, als alle schon zum Aufbruch gerüstet waren, griff Libertas in ihre Jackentasche und holte ein Foto heraus:
    »Schaut euch das an! Das ist das neue, offizielle Porträt des Reichsheinis. Er sieht so etwas von dämlich aus, oder?«
    Unter dem Gelächter aller anderen versuchte sie, Himmlers Gesichtsausdruck zu imitieren. Nur Luise war nicht zum Lachen zumute.

Sieben

    »Was hältst du von Luise?« Erna wischte noch einmal über den weißen Porzellanteller mit Goldrand, bevor sie ihn Gustav in die Hand drückte, der das Geschirr genau musterte, eher er es trocken zu reiben begann.
    »Sie ist unsicher, aber das ist normal.«
    Er stellte den Teller in den Küchenschrank und fuhr lächelnd fort: »Mit den Schulze-Boysens zusammenzutreffen, ist ein Kulturschock für eine brave Hausfrau vom Lande.«
    Erna gefiel nicht, dass ihr Mann abfällig über Luise sprach. Das war sonst nicht seine Art. Sie hatte die junge Frau ins Herz geschlossen. Vielleicht war es einfach ihr Beschützerinstinkt, doch sie spürte, dass die neue Freundin ihr Vertrauen dankbar erwiderte. In einem allerdings hatte Gustav recht ‒ Luise war unbedarft. Sie hatte erst angefangen nachzudenken. Als man ihre Nichte abholte, dieses fröhlich dahinschnatternde Mädchen mit dem typisch runden, mongoloiden Gesicht, kamen die ersten Zweifel. Erna erzählte ihr eines Nachmittags, was sie von den Anstalten wusste, in denen Behinderte auf rätselhafte Weise starben. Getötet wurden. Luises Weltbild geriet dadurch gehörig ins Wanken. Nicht mehr lange, und sie würde zu Taten bereit sein.
    Gustav nahm den nächsten Teller und inspizierte auch ihn genau.
    »Dass ihr Mann Polizist ist, gefällt mir nicht. Ich finde, wir sollten es den anderen sagen, damit sie entscheiden können, was und wie viel sie von sich
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